Sie bog auf den Schulparkplatz ein, bat Tess jedoch, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.
Tod und Geisteskrankheit: Konnte sie ihre Tochter wirklich vor diesen Gefahren schützen? Ich kann sie nicht einmal vor Ray beschützen.
Ray hatte gedroht, Tess bei sich zu behalten, das materielle Sorgerecht an sich zu reißen — sie, auf Deutsch gesagt, zu entführen. Aber im Moment ist sie bei mir, dachte Marguerite. Und wenn ich die Wahl hätte, würde ich sie von hier wegbringen, würde mit ihr nach Constance fahren und von da aus weiter, immer weiter, fort von der Quarantäne und den erschreckenden Gerüchten, die Chris angeschleppt hatte, fort von Eyeball Alley und fort von Mirror Girl.
Aber das konnte sie nicht. Sie musste Tess wieder in die Schule schicken, und von der Schule aus würde Tess wieder zu Ray und der immer zerbrechlicher werdenden Illusion von Normalität zurückkehren. Wenn ich sie bei mir behalte, dachte Marguerite, bin ich diejenige, die gegen die Vereinbarung verstößt, und Ray schickt dann seine Sicherheitsleute, um sie zu holen.
Aber wenn ich sie zu ihm zurückgehen lasse, und dann passiert irgendwas …
»Kann ich jetzt aussteigen?«, fragte Tess.
Marguerite holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich denke schon«, sagte sie. »Zurück in die Schule mit dir. Aber keine Ausflüge mehr während des Unterrichts, okay?«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Versprochen.« Sie griff nach der Türklinke.
»Eins noch«, sagte Marguerite. »Pass auf. Hör zu. Das ist jetzt ganz wichtig, Tess. Falls irgendwas Seltsames bei deinem Dad passiert, ruf mich an. Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Darüber brauchst du dir überhaupt keine Gedanken zu machen. Ruf mich einfach an. Denn ich bin immer für dich da, auch wenn du nicht bei mir bist.«
»Ist Chris auch für mich da?«
Überrascht sagte Marguerite: »Ja, sicher. Chris auch.«
»Okay«, sagte Tess, dann öffnete sie die Tür und sprang aus dem Auto. Marguerite sah ihrer Tochter nach, wie sie den verlassenen Parkplatz überquerte, durch Verwirbelungen von altem Schnee stapfend, die Jacke noch immer schief geknöpft und die Wintermütze zusammengepresst in den kleinen behandschuhten Händen.
Ich werde sie wiedersehen, sagte sich Marguerite. Ich muss einfach. Und also wird es so sein.
Dann verschwand Tess durch die Eingangstür der Schule und der Nachmittag war still und leer.
Sue Sampel erwachte und war nervös. Es war Samstagmorgen, heute sollte sie den kleinen Akt von Informationsklau begehen, den sie anfangs der Woche so unbedacht in Aussicht gestellt hatte. Ihre Hand zitterte, als sie sich die Zähne putzte, und ihr Spiegelbild war die idealtypische Darstellung einer verängstigten Frau mittleren Alters.
Sie ließ Sebastian noch eine Stunde länger schlafen, während sie sich selbst Kaffee kochte und Toast machte. Sebastian gehörte zu den Leuten, die auch bei Stürmen oder Erdbeben weiterschlafen, wohingegen bei ihr ein lärmender Spatz ausreichte, um sie in einen quälenden und erschöpfenden Halbwachzustand zu versetzen.
Sebastians Buch lag auf dem Küchentisch, und Sue blätterte darin, um sich ein bisschen abzulenken. Sie hatte es schon vor Wochen einmal ganz durchgelesen und vor ein paar Tagen angefangen, es sich ein zweites Mal vorzunehmen, um weitere Ideen und Gedanken aufzusaugen, die ihr bei der ersten Lektüre entgangen waren. Gott & das Quantenvakuum — ein gewichtiger Titel. Wie zwei Sumoringer, die auf einem Et-Zeichen balancierten.
Aber sie empfand das Buch nicht als großmäulig oder oberflächlich, vielmehr forderte es sie bis an die Grenzen ihres Bachelor-Grades in Naturwissenschaften. Zum Glück verstand es Sebastian recht gut, komplizierte Sachverhalte anschaulich zu erklären. Und sie besaß das Privileg, den Autor zur Hand zu haben, wenn sie irgendwo partout nicht durchblickte.
Es war weder ein dezidiert religiöses Buch noch ein Werk strenger Wissenschaftlichkeit. Sebastian selbst nannte es »spekulative Philosophie«. Einmal hatte er es als »Plauderei im Großformat« beschrieben. Das, vermutete Sue, war ein Ausdruck von Bescheidenheit. Das Buch enthielt viel an verborgener Wissenschaftsgeschichte, evolutionäre Weisheiten und Quantenphysik. Heißes Material für einen Religionsprof am College, zu dessen früheren Veröffentlichungen so atemberaubende Reißer gehörten wie »Fehlerhafte Zuschreibungen in paulinischen Texten des Ersten Jahrhunderts«. Seine These besagte im Wesentlichen, dass die Menschen den gegenwärtigen Stand ihres Bewusstseins durch Aneignung eines kleinen Teils einer universalen Intelligenz erlangt hätten. Gott anzapfen, mit anderen Worten. Diese Definition Gottes, argumentierte er, lasse eine Verallgemeinerung in einem Maße zu, dass sie die Gottesvorstellungen eines breiten Spektrums von Kulturen und Glaubensrichtungen umgreift. Ist Gott allgegenwärtig und allwissend? Ja, denn Er durchdringt die gesamte Schöpfung. Ist Er einzigartig oder vielfältig? Beides: Er ist allgegenwärtig, weil Er dem physischen Prozess des Universums innewohnt, aber Sein Geist ist (für den Menschen) erkennbar allein in vereinzelten und oft ungleichartigen Fragmenten. Gibt es ein Leben nach dem Tod oder gar eine Reinkarnation? Im entschieden buchstäblichen Sinne: nein; aber da unser Bewusstsein ein geborgtes ist, lebt es unabhängig von unserem Körper weiter, und sei es als ein winziger Teil von etwas, das fast unendlich viel größer ist.
Sue begriff, worauf er abzielte. Er wollte den Menschen den Trost der Religion gewähren, aber ohne den Ballast des Dogmatismus. Er ging recht unbekümmert mit seiner Wissenschaft um, und das ging manchen Leuten schwer gegen den Strich, wie zum Beispiel Elaine Coster. Aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Er strebte eine Religion an, die geeignet war, Witwen und Waisen zu trösten, ohne sie dem Patriarchat, der Intoleranz, dem Fundamentalismus oder seltsamen Ernährungsvorschriften zu unterwerfen. Er wollte eine Religion, die sich nicht in einem permanenten Handgemenge mit der modernen Kosmologie befand.
Wirklich kein schlechtes Programm, befand Sue. Aber wo ist mein Trost? Der Trost für die gemeine Diebin, die untreue Büroangestellte? Vergib mir, denn ich weiß genau, was ich tue, und ich zweifle sehr an diesem Tun. Vorausgesetzt, dass es darauf überhaupt noch ankam. Vorausgesetzt, dass sie nicht eh alle dem Untergang geweiht waren. Sie hatte das Fragment des Zeitschriftenartikels im Sawyer's gelesen und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen.
Sebastian kam die Treppe herunter, frisch geduscht und in seiner besten Freizeitkleidung: blaue Jeans und ein grüner Strickpullover, der aussah wie etwas, das ein englischer Geistlicher in die Kleiderspende gegeben hatte.
»Heute findet der große Raub statt.«
»Wie fühlst du dich?«
»Ich hab Angst.«
»Weißt du, du musst das nicht tun. Es war edel von dir, dich dazu bereit zu erklären, aber niemand wird etwas sagen, wenn du es dir anders überlegst.«
»Niemand außer Elaine.«
»Na ja, vielleicht Elaine. Aber mal im Ernst …«
»Ist schon gut, im Ernst. Du musst mir nur eins versprechen.«
»Nämlich?«
»Wenn ihr da im Saal sitzt bei der Veranstaltung … ich meine, ich weiß, die anderen passen auf und rufen an, falls Ray plötzlich abhaut und zur Plaza fährt. Aber der Einzige, dem ich wirklich vertraue, das bist du.«
Er nickte, mit großen Eulenaugen und noch größerer Ernsthaftigkeit.
»Ich brauche mindestens fünf Minuten Vorwarnzeit, wenn Ray unterwegs ist.«
»Kriegst du«, sagte Sebastian.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Der Vormittag verging allzu schnell. Die Bürgerversammlung sollte um ein Uhr beginnen, und sie bat Sebastian zu fahren, damit er sie unauffällig vor der Hubble Plaza absetzen konnte. Sie sprachen nicht viel im Auto. Als er anhielt, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Dann trat sie hinaus in die kalte Luft, verschaffte sich mit ihrer Karte Einlass am Haupteingang der Plaza, winkte dem Wachhabenden in der Vorhalle zu und ging ohne augenscheinliche Eile zu den Fahrstühlen. Ihre Schritte tönten in der gefliesten Halle wie das Klicken eines Metronoms, allegro, taktgleich mit dem Schlag ihres Herzens.
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