Nicht vor Ray, nicht vor den O/BEKs, vielleicht nicht einmal vor dem eigenen Tod. Er hatte Angst vor dem, was Marguerite ihm geschenkt hatte: ihr Vertrauen.
Es gibt Männer, dachte Chris, denen man nichts Zerbrechliches anvertrauen sollte. Die lassen es nur fallen.
Sobald die Sonne angemessen hoch stand, rief er Elaine Coster an. Er erzählte ihr von der Ambulanz, dem bewusstlosen Piloten und der angesengten Seite.
Sie schlug ein Treffen im Sawyer's vor, für zehn Uhr. Chris sagte: »Ich sage Sebastian Bescheid.«
»Wollen Sie wirklich diesen Scharlatan mit dabeihaben?«
»Bisher war er immer hilfreich.«
»Na, wie Sie meinen«, erwiderte Elaine.
Er weckte Marguerite, bevor er das Haus verließ. Er teilte ihr mit, wo er hinwollte, und setzte ihr eine Kanne Kaffee auf. Sie saß im Nachthemd in der Küche, machte einen niedergeschlagenen Eindruck. »Ich muss immerzu an Tess denken. Glaubst du, dass Ray sie wirklich bei sich behalten will?«
»Ich weiß nicht, wozu Ray imstande ist. Die dringlichste Frage ist, ob er eine Gefahr für sie darstellt.«
»Ob er ihr was tun könnte, meinst du? Nein. Das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht direkt. Nicht körperlich. Ray ist ein komplizierter Mensch und ein Arschloch von Natur aus, aber er ist kein Monster. Er liebt Tess — auf seine Art.«
»Sie soll Freitag wieder zu dir kommen. Vielleicht sollte man bis dahin warten; sehen, was er macht, nachdem er Gelegenheit hatte, sich abzuregen. Falls er dann immer noch darauf besteht, sie zu behalten, werden wir entsprechende Schritte unternehmen.«
»Falls irgendwas Schlimmes passiert mit Blind Lake, möchte ich sie bei mir haben.«
»So weit ist es ja noch nicht. Aber, Marguerite, selbst wenn Tess nicht in Gefahr ist, muss das nicht heißen, dass du sicher bist. Dass Ray ins Haus eingedrungen ist, macht ihn zu einem Stalker. Es macht ihn unberechenbar. Wie gut sind deine Schlösser?«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht besonders. Ich könnte mir wohl einen neuen Schlüssel machen … aber dann kommt Tess ohne mich nicht ins Haus.«
»Mach einen neuen Schlüssel und lass Tessas Karte updaten, selbst wenn du dich dafür an die Schule wenden musst. Und werde nicht unvorsichtig. Schließ immer die Tür ab, wenn du alleine bist, und mach nicht auf, ohne vorher zu gucken, wer da ist. Achte darauf, dass du deinen Pocket-Server immer griffbereit hast. Im Notfall ruf mich an oder Elaine oder meinetwegen sogar diesen Sicherheitsmenschen, wie heißt er noch? — Schulgin. Versuch nicht, die Sache allein in die Hand zu nehmen.«
»Du hörst dich so an, als hättest du das alles schon mal durchgemacht.«
Er verließ das Haus, ohne darauf zu antworten.
Im Sawyer's nahm Chris einen für sich stehenden Tisch in Beschlag, in gehöriger Entfernung zu den Fenstern. Das Restaurant war nicht sehr voll. Der Koch und einige der Kellnerinnen waren, so Chris' Vermutung, mehr oder weniger nur aus Gewohnheit da. Das Speisenangebot war auf Sandwiches geschrumpft: Schinken, Käse oder Schinken-Käse.
Elaine traf zeitgleich mit Sebastian Vogel und Sue Sampel ein. Alle drei sahen Chris gespannt an, als sie Platz nahmen. Sobald die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte, legte Chris die versengte, mit einer Plastikhülle geschützte Zeitschriftenseite auf den Tisch.
»Wow«, sagte Sue. »Haben Sie das tatsächlich gestohlen?«
»Dieses Wort verwenden wir nicht«, sagte Elaine. »Chris verfugt über eine hochrangige Quelle, die nicht genannt werden möchte.«
»Seht es euch an«, sagte Chris. »Lasst euch Zeit. Zieht Schlüsse, macht euch selbst einen Reim.«
Nur etwa ein Viertel der bedruckten Seite war lesbar. Der Rest war bis zur Unkenntlichkeit verkohlt und selbst der lesbare Teil ganz rechts war braun verfärbt.
Noch entzifferbar war das Bruchstück einer Schlagzeile:
OSSBANK LAUT VERTEIDIGUNGSMINISTER NOCH IMMER UNBEKANNT
Und darunter die linksseits abgeschnittenen Fragmente einer Textspalte:
Elaine sagte: »Was ist auf der Rückseite?«
»Eine Autoreklame. Und ein Datum.«
Sie drehte die Seite um. »Herrje, das Ding ist ja fast zwei Monate alt.«
»Ja.«
»Der Pilot hat es bei sich gehabt?«
»Ja.«
»Und er ist noch immer ohne Bewusstsein?«
»Ich hab heute Morgen in der Ambulanz angerufen. Es gibt keine Veränderung.«
»Wer weiß noch hierüber Bescheid?«
»Marguerite. Und jetzt ihr drei.«
»Okay … dann wollen wir es auch dabei belassen, Leute.«
Die Kellnerin brachte den Kaffee. Chris deckte die Seite mit einer Dessertkarte ab.
»Sie hatten ja ein bisschen Zeit zum Nachdenken«, sagte Elaine. »Werden Sie daraus schlau?«
»Offensichtlich gibt es eine Krise in Crossbank. Welcher Art, darauf sind kaum Hinweise zu erkennen. Groß genug jedenfalls, um die Infanterie auf den Plan zu rufen und möglicherweise die Highways — was stand da noch? — östlich des Mississippi zu sperren. Wir haben das Wort ›Plagen‹ in Anführungszeichen und offenbar ein Dementi vom Gesundheitsamt CDC …«
»Das kann alles Mögliche heißen«, sagte Elaine. »Und auch das genaue Gegenteil.«
»Es wird über ›Todesfälle berichtet‹ oder vielleicht auch ›keine weiteren Todesfälle‹. Wir haben rätselhaftes Zeug über Korallen, Seesterne, einen Pilger. Eine Erklärung, die offenbar Ed Baum zuzuschreiben ist, dem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten. Das Ereignis war groß genug, um Schlagzeilen zu machen und Bundesbehörden zur Stellungnahme zu bewegen, aber nicht groß genug, um die Werbung aus der Zeitschrift zu verbannen.«
»Dieser Anzeigenplatz kann schon vor sechs Monaten gekauft worden sein. Das beweist nichts.«
»Sebastian?«, sagte Chris. »Sue? Irgendwelche Einfälle?«
Beide blickten ernst und feierlich. Sebastian sagte: »Was mich fasziniert, ist der Gebrauch des Wortes »spirituell«.«
Elaine verdrehte die Augen. »Das dachte ich mir.«
»Ja, weiter«, ermunterte ihn Chris.
Sebastian runzelte die Stirn, sein gespitzter Mund verschwand fast hinter seinem mächtigen Bart. Seit Beginn der Isolation war seine Erscheinung immer gnomenhafter geworden, fand Chris. Irgendwie hatte er es geschafft, zuzunehmen. Seine Wangen waren beerenrot. »Spirituelle Erlösung. Welcher Art muss eine Katastrophe sein, um auch nur die Illusion einer Erlösung heraufzubeschwören? Oder Pilger anzulocken?«
»Unsinn«, sagte Elaine. »Um Pilger anzulocken, reicht es schon zu verkünden, man habe das Porträt der Jungfrau Maria in einem verschmutzten Bettlaken gesehen. Die Leute sind leichtgläubig, Sebastian. Sie müssen es sein, sonst hätten Sie keinen Bestseller geschrieben.«
»Oh, ich glaube nicht, dass wir es hier mit der Wiederkunft Christi zu tun haben. Wenngleich einige Menschen es vielleicht dafür halten. Das deutet dann allerdings auf etwas Seltsames hin, meinen Sie nicht? Etwas schwer Greifbares.«
»Seltsam und schwer greifbar. Wow, tolle Einsicht.«
Chris steckte die Zeitschriftenseite zurück in seine Jackentasche. Er ließ die anderen einige Minuten weiter diskutieren. Elaine war sichtlich frustriert darüber, nur eine halbe Erklärung vorliegen zu haben. Sebastian wirkte eher fasziniert als ängstlich, und Sue hielt sich in bedrückter Schweigsamkeit an seinem linken Arm fest.
»Dann haben die Kritiker also vielleicht recht«, sagte Elaine. »Irgendwas ist mit den O/BEKs in Crossbank passiert. Also muss man darüber nachdenken, das Auge abzuschalten.«
»Vielleicht«, sagte Chris. Er war dieses Szenario vergangene Nacht mit Marguerite durchgegangen. »Aber wenn die Leute draußen wollten, dass wir abgeschaltet werden, hätten sie uns schon vor Monaten den Saft abdrehen können. Vielleicht haben sie genau das in Crossbank gemacht, und es hat die Sache nur verschlimmert.«
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