»Besonderer Anlass?«
Tess zuckte die Achseln.
Als sie draußen war, in ihre Winterjacke eingemummelt (aber anders als Edie nur mit einem Pullover), wurde ihr klar, dass sie nicht nach Hause gehen und auch nicht zum Nachmittagsunterricht wieder in der Schule sein würde. Mirror Girl hatte sie hierhergebracht und Mirror Girl hatte für den Nachmittag eigene Pläne.
Seit dem Ende der Sandsturmkrise funktionierte das Auge einwandfrei und ohne die kleinsten Aussetzer.
Es war fast ein bisschen entnervend, dachte Charlie Grogan. Als er am Morgen seine Runde durch den Kontrollraum gemacht hatte, waren alle sehr entspannt gewesen — so entspannt man seit Beginn der Abriegelung halt sein konnte. Die Leute hatten sage und schreibe sogar gelächelt. Strom und Spannung lagen voll im grünen Bereich, die Temperatur war stabil, alle Daten blitzsauber, und selbst die Landschaft, durch die das Subjekt weiterhin wanderte, schien sonnig und mehr oder weniger freundlich. Charlie, der sich ein bisschen überflüssig vorkam, beobachtete eine Zeit lang den Monitor in seinem Büro. Subjekt sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Deckhaut war stumpf und von Furchen durchzogen, sein gelber Hahnenkamm hing schlaff wie eine zerfetzte Fahne herab, aber es ging mit festem Schritt und deutlicher Entschlossenheit durch die weglose Wildnis. Das Land war flach und kahl, nur am Horizont waren Unregelmäßigkeiten zu erkennen, Berggipfel, Schimmern von Schnee in großer Höhe.
Das Subjekt kam nur langsam voran. Ein bisschen wie eine Schnecke auf einem leeren Gehsteig. Gelangweilt und tatsächlich ohne jede Wartungspflichten ließ Charlie das Mittagessen ausfallen und schlenderte hinunter zu der mit einer Glaswand umgebenen Galerie oberhalb der O/BEK-Zylinder.
Die Galerie erfüllte vorwiegend repräsentative Zwecke; hier konnte man Besucher herführen, Kongressabgeordnete oder europäische Staatsoberhäupter, in den Zeiten vor der Isolierung, von hier aus konnte man aus sicherer Höhe auf die Zylinder hinabblicken. Da es derzeit keine Touristen gab, war die Galerie in der Regel leer; Charlie kam oft hierher, um allein zu sein.
Er lehnte an der drei Zentimeter dicken inneren Glaswand und blickte drei Stockwerke nach unten auf die O/BEK-Zylinder. Diese demütigenden Geräte, die sich in den interstellaren Raum hineindachten. Man durfte es ja nicht sagen, aber sie dachten tatsächlich, das war nicht zu bestreiten, selbst wenn man (wie die Theoretiker) Wert auf die Feststellung legte, dass sie »einen endlichen, wenn auch riesig großen Quantenphasenraum von exponentiell wachsender Komplexität erforschten«. Ach, ja klar, mehr war es nicht. Die O/BEKs zogen Bilder aus den Sternen und träumten sie auf ein Pixelraster, indem sie einen »Quantenphasenraum erforschten« — Wortgeklingel, dachte Charlie. Zeigt mir die Verbindungen. Was bekamen sie tatsächlich zu fassen, und wie? Niemand konnte es sagen.
Was ist ein Engel? Ein Wesen, das auf einem Stecknadelkopf tanzt. Und was tanzt auf einem Stecknadelkopf? Ein Engel natürlich.
Diese O/BEKs waren aber nur der zentrale Teil der großen Maschinerie, die ihnen diente. Alles in allem nahm das Auge eine erkleckliche Menge von Kubikmetern ein. Wie er da so ziemlich in der Mitte des Ganzen stand, stellte Charlie sich vor, er könne die kalte Wucht seiner Gedanken hören. Er schloss die Augen. Träume mir eine Erklärung.
Aber das Einzige, was er hinter seinen Augenlidern sehen konnte, war eine Erinnerung an das Subjekt, verloren im Hinterland seines knochentrockenen Planeten. Komisch, was für eine Klarheit dieser Tagtraum besaß, die ihn mindestens so lebendig erscheinen ließ wie die Direktübertragung auf seinem Büromonitor. Als wandere er, Charlie, in den Fußstapfen des Subjekts. Das Sonnenlicht war warm und ein oder zwei Schattierungen blauer als das irdische Sonnenlicht, aber der Himmel selbst war weiß, mit Staub aufgeladen. Ein sanfter Wind ließ kleine Wirbel aufsteigen, die ein paar Meter über das alkalifleckige Flachland tanzten, bevor sie ihre Existenz aushauchten.
Seltsam. Charlie lehnte sich gegen die Glaswand und stellte sich vor, er würde nach dem Subjekt greifen. Sicherlich hatten selbst die O/BEKs niemals ein Bild übermittelt, das so destilliert, so übernatürlich rein war wie dieses. Er konnte, wenn er wollte, alle Erhebungen auf der Kieshaut des Subjekts zählen. Er konnte die metronomischen Schritte seiner staubigen, elefantenartigen Füße hören und die Spur sehen, die das Subjekt hinterließ, zwei punktierte, in das körnige Material des Wüstenbodens eingeschriebene parallele Linien. Er konnte die Luft riechen: Sie roch nach heißem Stein, nach glimmerhaltigem, der Mittagssonne ausgesetztem Granit.
Er stellte sich vor, dem Subjekt die Hand auf die Schulter zu legen, oder jedenfalls auf jenes schräg abfallende Knorpelstück hinter seinem Kopf, das als Schulter durchgehen mochte. Wie würde sich das anfühlen? Nicht ledrig, sondern hart, dachte Charlie, jeder Gänsehautknubbel wie ein überwachsener Knöchel, einige davon stachelig, mit steifen weißen Haaren. Subjekts gut durchbluteter Hahnenkamm diente wahrscheinlich dazu, seine Körpertemperatur an die Hitze anzupassen, und falls ich ihn berührte, dachte Charlie, würde er sich feucht und biegsam anfühlen wie Kaktusfleisch …
Subjekt blieb abrupt stehen und drehte sich um, als sei es über etwas erschrocken. Unversehens starrte Charlie in die leeren weißen Billardkugelaugen und dachte: O Scheiße!
Er riss seine Augen weit auf und taumelte zurück, weg von der Glaswand. Ah, er war in der O/BEK-Galerie. In Sicherheit. Blinzelnd verscheuchte er, was schlechterdings nur ein Traum gewesen sein konnte.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Ein zweites Mal erschrocken fuhr Charlie herum und sah ein Mädchen hinter sich stehen. Sie trug eine Winterjacke, die schief geknöpft war, eine Seite des Kragens ragte über ihr Kinn hinaus. Sie hatte sich eine Strähne ihres lockigen Haars um den Finger gewickelt.
Sie kam ihm bekannt vor. Er sagte: »Bist du nicht Marguerite Hausers Tochter?«
Das Mädchen runzelte die Stirn und nickte dann.
Charlies erster Impuls war, den Sicherheitsdienst zu alarmieren, aber das Mädchen — ihr Name war Tess, erinnerte er sich — wirkte verschüchtert, und er wollte ihr keine Angst machen. Also fragte er: »Ist deine Mutter oder dein Vater hier?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht? Wer hat dich reingelassen?«
»Niemand.«
»Hast du eine Passierkarte?«
»Nein.«
»Haben dich die Wachen nicht aufgehalten?«
»Ich bin reingekommen, als gerade keiner geguckt hat.«
»Na, das ist ja ein guter Trick.« In Wirklichkeit sollte so etwas unmöglich sein. Aber da stand sie vor ihm, mit großen Kulleraugen und offenkundig unsicher. »Suchst du jemanden?«
»Eigentlich nicht.«
»Na, was führt dich dann hierher, Tess?«
»Ich wollte das mal sehen.« Sie deutete auf die O/BEK-Zylinder.
Für einen langen Augenblick fürchtete er, sie würde ihn fragen, wie sie funktionierten.
»Weißt du«, sagte Charlie, »du dürftest hier eigentlich gar nicht so ganz alleine rumlaufen. Wie wär's, wenn wir jetzt erst einmal in mein Büro gehen und ich dann deine Mutter anrufe?«
»Meine Mutter?«
»Ja, deine Mutter.«
Das Mädchen schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen.
»Okay«, sagte sie.
Während Charlie Marguerites Pocket-Server anwählte, saß Tess in seinem Büro und sah sich einige Hochglanzbroschüren an, die er für sie aufgetrieben hatte. Marguerite war offenbar überrascht, von ihm zu hören, und ihre erste Frage galt dem Subjekt — war irgendwas Interessantes passiert?
Kommt drauf an, wie man die Sache betrachtet, dachte Charlie. Er konnte diesen Traum auf der Galerie einfach nicht abschütteln. Auge in Auge mit dem Subjekt. Es hatte unfassbar real gewirkt.
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