»Das ist mir egal! Es ist mir ganz egal, was sie nicht darf! Wenigstens will sie niemanden umbringen!«
»Tess, ich hab dir doch gesagt, ich will nicht …«
Der Server klickte. Tess hatte die Verbindung abgebrochen.
Als er sie erneut anrief, ging sie nicht ran, es kam nur ihre Standardansage. Er versuchte es bei Marguerite. Mit dem gleichen Ergebnis.
»Verdammtes Miststück«, flüsterte Ray. Womit Marguerite gemeint war. Vielleicht sogar Tess, die ihn verraten hatte. Aber nein, halt, stop, das war nicht fair. Tess war irregeführt worden, irregeführt von der Nachgiebigkeit einer sie hoffnungslos verwöhnenden Mutter. Und genau darum ging es bei diesem ganzen Quatsch mit Mirror Girl.
Marguerite verwendete es gegen ihn. Daddy will Mirror Girl töten. Sie indoktrinierte das Mädchen. Ray malte es sich aus, wurde fuchsteufelswild. Man konnte nicht wissen, allenfalls ahnen, was für Lügen man Tess über ihn erzählt hatte.
War also auch Tess für ihn verloren?
Nein. Nein. Unmöglich. Noch nicht.
Er schloss sich in seinem Büro ein, drehte seinen Sessel zum Fenster und erwog, Dimi Schulgin anzurufen. Vielleicht hatte Schulgin irgendwelche Ideen.
Die Aussicht aus seinem Büro war leblos und feindselig. Blind Lake hatte sich daran gewöhnt, ohne Wetterbericht zu leben, aber man musste kein Meteorologe sein, um die Wolken aufziehen zu sehen, niedrige Wolken, mit Schnee beladen, von einem Wind in Sturmstärke von Nordwesten herangetrieben. Eine weitere Fortsetzung in diesem endlosen Winter.
Der fallende Schnee verlieh der Stadt eine täuschende Unbestimmtheit, wie eine Ferrotypie oder ein in Grautönen gemaltes Bühnenbild. Die Fensterscheibe wölbte sich ein wenig unter einer besonders heftigen Windbö, wodurch das Bild leicht verzerrt erschien, wie durch eine Linse betrachtet. Die beobachtete Person — Subjekt — starrte für unbestimmte Zeit auf den herannahenden Sturm.
Als er sich vom Fenster wegdrehte, blieb eine der Gleitrollen seines Stuhls an etwas hängen, das sich unter dem Schreibtisch verbarg. Das Reinigungspersonal wurde nachlässig, aber das war ja weiß Gott nichts Neues. Ein Bogen Papier. Mürrisch bückte er sich, um ihn aufzuheben.
Von: Bo Xiang, Crossbank National Laboratory
An: Avory Fishbinder, Blind Lake National Laboratory
Text: In Beantwortung Ihrer Frage nur so viel: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Trockengebietsgebilde natürlicher Herkunft sind, ist sehr gering. Zwar findet man diese Art von Symmetrie recht häufig in der Natur, doch die Größe der Gebilde und der Präzisionsgrad sind bemerkenswert und lassen eher auf Konstruktion als auf Evolution schließen. Nicht, dass dies ein entscheidendes Argument wäre, aber
Ray brach die Lektüre ab und legte das Papier mit der Schrift nach oben auf den Schreibtisch.
Langsam, sich bewusst Zeit lassend und ohne sich ein vorschnelles Urteil zu bilden, schloss er seinen Schreibtisch auf und entnahm der untersten Schublade den dicken Stapel der Ausdrucke, die Schulgin ihm geliefert hatte. Flüchtig sah er ihn durch.
Die Seiten lagen nicht in der richtigen Reihenfolge.
Es war wieder jemand an seinem Schreibtisch gewesen.
Ray stand auf. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, ein über ein Wolkengemälde geklebtes Porträt, von einem in eine Glasschicht eingefrorenen Mann.
Das Wetter hatte sich merklich verschlechtert, als Chris, Marguerite und Tess zu Hause ankamen. Vielleicht musste man das positiv sehen, dachte Chris. Es wurde dadurch eine weitere Barriere zwischen Marguerite und Ray gezogen. Falls Ray kommen wollte, um seine Tochter zu holen — oder Rache zu üben —, würde der Schnee seinen Vormarsch wenigstens abbremsen.
Tess hatte nach dem Telefongespräch geweint. Inzwischen waren die Tränen in einen Schluckauf übergegangen, und Marguerite legte ihr einen Arm um die Schultern, als sie sie ins Haus führte. Tess schlüpfte aus ihrer Jacke und ihren Stiefeln und lief dann zum Wohnzimmersofa, als sei dieses ihr ganz spezielles Rettungsfloß.
Mit ihrer Karte schloss Marguerite die Tür ab. »Schieb am besten auch noch den Riegel vor«, sagte Chris.
»Hältst du das für nötig?«
»Ich halte es für klug.«
»Bist du da nicht ein bisschen paranoid? Ray würde nie …«
»Wir wissen nicht, was Ray tun könnte. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
Sie warf den Riegel vor, dann setzte sie sich zu ihrer Tochter aufs Sofa.
Chris borgte sich ihr Büro aus, um die Dokumente auszudrucken, die Sue ihm auf den Server geleitet hatte. Das Arbeitszimmer hatte keine Fenster, aber er konnte den Wind hören, der draußen Wirbel veranstaltete und sich an der Regenrinne zu schaffen machte, als würde jemand mit einem stumpfen Messer daran entlangschaben.
Er dachte an Rays Auftritt im Auditorium. Rays erster Tagesordnungspunkt hatte darin bestanden, sich über Marguerite lustig zu machen, sie zu demütigen, und dabei war er recht clever vorgegangen, hatte seine Wut gezügelt und getarnt. Für einen Mann wie Ray ging es immer in erster Linie darum, die Kontrolle zu bewahren. Doch die Welt steckte voller nicht zu kontrollierender Unverschämtheiten. Erwartungen wurden enttäuscht. Ehefrauen gehorchten nicht und verließen ihn sogar. Seine Theorien wurden widerlegt.
Sein Schreibtisch wurde durchwühlt.
Nach Chris' Ansicht war das Bedeutsame an Rays kleiner Kernschmelze, dass sie auf persönliche Auflösungserscheinungen hindeutete. Typen wie Ray waren emotional labil, und eben dies machte sie zu den schikanösen Kotzbrocken, die sie waren. Sie lebten immer am Rande des Zusammenbruchs. Und gingen eben manchmal über den Rand hinaus.
Zügig spuckte der Drucker die Seiten aus, alle Dokumente, etwa dreißig an der Zahl, die Sue kopiert hatte. Rays Schatz, wozu immer er gut sein mochte. Chris setzte sich hin und begann zu lesen.
Marguerite verbrachte den grauen Ausklang des Nachmittags an der Seite ihrer Tochter.
Tess hatte sich weitgehend beruhigt, seit sie im Haus war. Aber ihr Kummer war ihr weiterhin deutlich anzumerken. Sie hatte sich aufs Sofa gekuschelt, in ein gestepptes Deckbett eingewickelt wie in einen Gebetsmantel, und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Videobildschirm. Blind-Lake-TV zeigte alte Downloads von The Fosters, einer Kinderserie, die Tess nicht mehr gesehen hatte, seit sie sechs war. Sie hatte die Lautstärke hochgedreht, um den Wind und die harten Schneeflocken zu übertönen, die gegen die Fenster trommelten.
Marguerite saß fast die ganze Zeit bei ihr. Sie war neugierig auf die Dokumente, die Chris ausdruckte und las, aber, mochte es auch seltsam erscheinen, das war jetzt alles nicht so dringend. Für einige wenige Stunden, zwischen Dunkelheit und eigentlicher Nacht, stand die Welt still, ein Ruhepunkt in dem aufziehenden Sturm, und sie hatte kein weiteres Bedürfnis, keinen weiteren Wunsch, als neben Tess zu sitzen.
Kurz nach fünf ging sie in die Küche, um etwas zum Abendessen vorzubereiten. Das Fenster über der Spüle war mehr oder weniger zugeschneit, undurchsichtig wie ein Bullauge in einem gesunkenen Schiff, draußen nichts als undeutliche Umrisse, die sich unter dem Druck der Hoffnungslosigkeit bewegten. War es wirklich denkbar, dass Ray zum Haus kommen und versuchen würde, ihr etwas anzutun? Bei diesem Wetter? Wenn allerdings jemand entschlossen war, etwas Schlimmes zu tun, dann war wohl nicht anzunehmen, dass er dies wegen heftigen Schneefalls aufschieben würde.
Tess kam in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und sah Marguerite zu, wie sie gelbe Paprika für den Salat zerschnippelte.
»Geht es Chris gut?«, fragte Tess.
»Ja, sicher. Er ist gerade oben, hat dort zu tun.« Telefonische Beratung mit Elaine Coster, als sie zuletzt nachgesehen hatte.
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