Sie erlaubte Chris, den Schlitten bis zum höchsten Punkt des Hügels zu ziehen. Es gab einen sanften Anstieg auf der einen und dann eine steile Abfahrt auf der anderen Seite. Tess war ein bisschen außer Atem, als sie oben angelangt waren, aber die Aussicht gefiel ihr. Komisch, dass man von einem eher kleinen Hügel so viel mehr sehen konnte als von unten. Hier waren die dunklen Türme von Eyeball Alley, dort die weißen Quadrate der Hubble Plaza sowie die Geschäfte und Häuser rundherum. Die Straßen sahen aus wie auf einem Stadtplan, gerade und messerscharf geführt; die Straße nach Constance schnitt wie eine in weißes Metall geätzte Linie durch das Südtor und weiter in die verschneite Ferne. Wind zupfte an Tessas Haaren, sie nahm ihre Schneemütze aus der Jackentasche und zog sie sich über den Kopf, fast bis zu den Augen hinunter.
Sie schloss die Augen und sah Flugzeuge. Warum Flugzeuge? Mirror Girl machte sich im Moment große Sorgen um Flugzeuge.
Um ein kleines Flugzeug mit Propellern und einen größeren Düsenjet, der auf das erste niederschoss wie ein Raubvogel. Wo? Der Himmel war zu bewölkt, um viel erkennen zu lassen, wenngleich die Wolken eher dünn waren und ziemlich hoch. Das Summen in ihren Ohren konnte ein Flugzeug sein, dachte Tess, oder vielleicht auch nur der Wind, der mit dem Kragen ihrer Jacke spielte, oder das eigene Blut, das in den Ohren pulsierte.
Ihre Finger kribbelten, aber ihr Körper unter der Kleidung war warm. Mir ist heiß, mir ist kalt, dachte sie.
»Tess?«, sagte Chris. »Alles in Ordnung?«
Wenn Leute ihr diese Frage stellten, hieß das normalerweise, dass sie sich gerade irgendwie seltsam benahm. Dass sie zu still dastand oder zu lange auf etwas starrte. Aber was kümmerte das die Leute? Was war so seltsam daran, dass man dastand und nachdachte?
Vielleicht war es das, was Mirror Girl sah oder was Tess sehen sollte: das große und das kleine Flugzeug. Das kleine war hellgelb und hatte Zahlen auf den Flügeln, aber keine militärischen Kennzeichen. Es war größer als die Flugzeuge, die die Felder besprühen, aber nicht viel. Es war ganz klar zu sehen, wenn sie die Augen schloss, aber auch verwirrend, so als würde sie aus zu vielen Blickwinkeln gleichzeitig auf das Flugzeug gucken. Es war ein facettiertes Flugzeug, ein Kaleidoskopflugzeug, ein Flugzeug in einem Spiegel mit vielen Knicken und Kanten.
Chris reichte ihr das Seil ihres Schlittens. Tess nahm es fest in die Hand und versuchte sich auf die Aufgabe des Rodeins zu konzentrieren — plötzlich schien es mehr eine lästige Prüfung als ein echter Spaß zu sein. Schnee knirschte und ächzte unter dem Gewicht der Holzkufen. Irgendwo am unteren Ende des Hanges wurde gelacht. Dann lenkten die Flugzeuge sie wieder ab. Nicht nur das kleine Flugzeug, sondern auch das große, der Jet, der noch immer weit weg war, aber das kleine Flugzeug hartnäckig verfolgte, und dann …
Tess ließ das Seil los. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, rutschte unbemannt den Hügel hinunter, bevor Chris ihn einfangen konnte.
Chris kniete vor ihr. »Tess, was ist? Was ist los?«
Sie sah seine großen besorgten Augen, konnte aber nicht antworten. Der Jet war in wenigen Sekunden um Kilometer näher gekommen. Und jetzt flog etwas von dem Jet weg — es war eine Rakete, vermutete Tess — und es blitzte zwischen den beiden Flugzeugen auf wie eine Spiegelung in einem zerbrochenen Kristall.
Warum konnte niemand sonst es sehen? Warum rodelten und lachten die Leute auf dem Hügel immer noch? Waren sie wegen des Schnees verwirrt, wegen seiner Millionen und Abermillionen von Spiegeln? »Vielleicht sollten wir dich lieber nach Hause bringen«, sagte Chris, der offensichtlich auch nichts sah. Tess wollte hinzeigen. Sie hob den Arm, streckte den Finger aus; ihr Finger folgte dem unsichtbaren Kreisbogen der Rakete, eine Linie wie ein unendlich dünner Bleistiftstrich auf dem weißen Papier des Himmels; sie sagte: »Da …«
Aber da hörten alle die Explosion.
Charlie Grogan erwartete Marguerite vor seinem Büro in der Alley. »Kommen Sie mit runter ins Kontrollzentrum«, sagte er knapp. »Es wird immer verrückter.«
Charlie war sichtlich angespannt, als sie im Fahrstuhl standen. Das Auge war tief unten in der Erde, eine Ironie, an der Marguerite einst ihre Freude gehabt hatte. Das Juwel ist im Lotus, das Auge ist in der Erde. Damit ich dich besser sehen kann, mein Kind. So lustig kam ihr das jetzt nicht mehr vor. »Ich kann alle Anrufe aus der Plaza handeln«, sagte sie, »es sei denn, Ray ist selber dran. Wenn Ray anruft und den Vorgesetzten rauskehrt, kann ich nur noch so tun, als sei das Telefon kaputt.«
»Die Plaza ist im Moment nicht unser größtes Problem, ehrlich gesagt. Wir mussten beide Technikerschichten herbestellen. Sie haben einige von den Interface-Einheiten rausgerissen und ersetzt. Schlimmer noch«, sagte Charlie, »und das werden Sie überhaupt nicht gerne hören, wir haben großen Ärger mit den O/BEKs.«
Die O/BEKs. Man hatte sogar Charlie schon sagen hören, dass es sich um eine »Drück-den-Daumen-Technologie« handele. Marguerites Kenntnisse über Quanten-EDV waren sehr bescheiden; sie gab nicht vor, die Feinheiten der O/BEK-Zylinder zu begreifen.
Das Verbinden von mehreren O/BEKs zu einem sich selbst entwickelnden »organischen« Array war ein Experiment, das ihrer Ansicht nach überhaupt nicht hätte funktionieren dürfen. Die Ergebnisse waren unvorhersehbar, geradezu unheimlich, und sie erinnerte sich an das, was Chris gesagt (oder zitiert) hatte: Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Konnte es, jawohl. Und vielleicht war dieser Zeitpunkt jetzt gekommen.
Aber, Gott, nein, dachte sie, nicht jetzt, wo sie kurz davor standen, tiefer greifende Erkenntnisse zu gewinnen, jetzt, wo das Subjekt in tödlicher Gefahr war.
Der Kontroll- und Interface-Raum war so bevölkert, wie Marguerite ihn noch nie erlebt hatte. Techniker drängten sich um die Systemmonitoren, einige von ihnen in hitziger Diskussion begriffen. Mit Entsetzen sah sie, dass der große Zentralbildschirm, der mit der Liveübertragung, vollkommen schwarz war. »Charlie, was ist passiert?«
Er zuckte die Achseln. »Kommunikationsabsturz. Vorübergehend, glauben wir. Es ist ein Eingabe-Ausgabe-Problem, kein vollkommenes Systemversagen.«
»Wir haben das Subjekt verloren?«
»Nein, wie gesagt, es hängt an den Interfaces. Das Auge beobachtet nach wie vor, aber wir haben Probleme, uns mit dem Auge zu verständigen.« Er deutete ein weiteres Achselzucken an, was so viel besagen sollte wie: Das ist es jedenfalls, was wir glauben.
»Ist so etwas schon einmal passiert?«
»So nicht, nein.«
»Aber Sie können es wieder hinkriegen?«
Er zögerte. »Wahrscheinlich«, sagte er schließlich.
»Vor zwanzig Minuten gab es noch ein Bild. Was hat es grad gemacht, als Sie es verloren haben?«
»Das Subjekt? Es hockte gerade hinter einer Art Hindernis, als alles grau wurde.«
»Glauben Sie, dass der Sturm die Ursache ist?«
»Marguerite, keiner weiß es. Wir verstehen nicht mal annähernd, was die O/BEKs machen. Sie können durch Steinwände gucken; ein Sandsturm sollte da eigentlich kein Problem sein. Aber die Sicht ist stark eingeschränkt, also muss das Auge sich vielleicht viel mehr anstrengen, um an einem beweglichen Ziel dranbleiben zu können; vielleicht ist es das, womit wir es hier zu tun haben. Wir können nicht mehr tun, als die Peripherieprobleme zu behandeln, sobald sie auftauchen. Die Temperatur kontrollieren, die Quantentröge stabil halten.« Er schloss die Augen und strich sich mit der flachen Hand über die stoppelige Kopfhaut.
Das ist es, was wir uns nicht gerne eingestehen, dachte Marguerite: dass wir eine Technologie benutzen, die wir nicht begreifen. Eine »dissipative Struktur«, die fähig ist, ihre eigene Komplexität zu erhöhen — fähig, in ihrem Wachstum über die Grenzen unseres geistigen Auffassungsvermögens hinauszugehen. Nicht eigentlich eine Maschine, sondern ein Prozess innerhalb einer Maschine, Evolution im Kleinformat, eine neue Lebensform eigener Art. Wir haben dabei nichts weiter getan, als den Anstoß gegeben, den Prozess auszulösen und ihn unseren Zwecken anzupassen. Was uns zur einzigen Spezies macht mit einem Auge, das komplexer ist als unser Gehirn.
Читать дальше