Ihr Telefon klingelte. Sie achtete nicht darauf. Jetzt tauchte Charlie wieder auf und sie beobachtete ihn, wie er durch den Raum kreiste, die verschiedenen Tätigkeiten koordinierte. Da sie hilflos war — oder jedenfalls nicht in der Lage zu helfen —, entwickelte sie ein Vorgefühl des Verlustes. Verlust der Kommunikation, Verlust der Orientierung, Verlust des Sehens, Verlust des Subjekts, mit dem sie sich quer durch die Wüste bis ins Herz eines Sandsturms gekämpft hatte. Von Zeit zu Zeit explodierten stochastische Farbkaskaden auf dem Bildschirm. Marguerite starrte angestrengt hin, versuchte vergeblich ein Bild auszumachen. Kein Signal, nur Rauschen, nichts als Rauschen.
Ein paar grüne Lichter mehr, hörte sie jemanden sagen. War das gut? Anscheinend. Da kam Charlie, und er lächelte zwar nicht, aber sein Gesichtausdruck war nicht mehr ganz so ernst wie vorher — wann war das gewesen, vor einer Stunde?
»Wir kriegen wieder ein bisschen was zu fassen«, sagte er.
»Ein Bild?«
»Vielleicht.«
»Sind wir noch immer auf dem Subjekt drauf?«
»Warten Sie's einfach ab, Marguerite.«
Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu, auf dem neues Licht zu erscheinen begann. Winzige digitale Mosaike, zusammengesetzt in den unergründlichen Tiefen der O/BEK-Zylinder. Weiß ging in ein gelbliches Braun über. Die Wüste! Wir sind wieder da, dachte Marguerite und ein Schauer der Erleichterung lief ihr über den Rücken — aber wo war das Subjekt und was war das da für eine gestaltlose Leere?
»Sand«, murmelte sie. Feine Silikatkörner, vom Wind unbehelligt. Der Sturm hatte sich offenbar ausgetobt. Aber der Sand war nicht bewegungslos. Der Sand warf Hügel auf und rutschte in diese oder jene Richtung.
Subjekt wälzte sich unter einem schweren Umhang aus Sand hervor. Es war vom Wind eingeweht und begraben worden, lebte aber noch. Mithilfe seiner Werkzeugarme erhob es sich, stand dann, noch etwas unsicher, im frappierenden Sonnenlicht. Die virtuelle Kamera erhob sich mit ihm. Hinter ihm sah Marguerite den Sandsturm, der zum Horizont weitergewandert war, schwarze Wirbel hinter sich herziehend wie einen üppigen Pferdeschwanz.
Rings um das Subjekt waren Gebilde aus Stein zu erkennen: alte Säulen, pyramidenförmige Bauwerke, vom Sand halb abgetragene Fundamente. Die Ruinen einer Stadt.
DRITTER TEIL
Aufstieg des Unsichtbaren
Auf der Erde konnte der Mensch nicht weitergehen in der Überwindung der ihm durch Atmosphäre, Metalle und Optik gesetzten Schranken. Mit diesem gigantischen Spiegel, Hauptstück eines Teleskops, für dessen Bau sich Dutzende der größten Geister zusammengetan hatten, um in jahrelanger Arbeit ein Instrument von nie dagewesener Genauigkeit, Feinheit und Reichweite hervorzubringen, ausgestattet mit allen Apparaturen, die sich ein Astronom nur vorstellen und wünschen kann, war das Studium des Universums an einen Höhepunkt gelangt.
Donald Wandrei, »Colossus«, 1934
Der Februar nahte, und als Marguerite von ihrer samstäglichen Rationszuteilung nach Hause fuhr, wurde ihr deutlich, wie sehr Blind Lake sich verändert hatte.
Gar nicht mal an der Oberfläche. Wann immer es schneite, kamen nach wie vor die Schneepflüge aus ihren Standorten hinter dem Einkaufszentrum hervor und machten die Straßen befahrbar. Noch immer brannten abends Lichter in den Fenstern. Alle hatten es warm und niemand musste hungern. Doch es hatte sich eine gewisse Schäbigkeit über die Stadt gelegt, etwas gleichsam Ungewaschenes. Es kamen keine Firmen mehr von außerhalb, um Schlaglöcher auszubessern oder die Schindel zu ersetzen, die bei den nachweihnachtlichen Stürmen von so vielen Dächern gerissen worden waren. Der Müll wurde weiter regelmäßig abgeholt und gesammelt, konnte aber nicht mehr abgefahren werden — die Stadtreinigungsleute hatten eine vorläufige Deponie bei den westlichen Ausläufern des Sees eingerichtet, nahe des Begrenzungszauns und möglichst weit entfernt von der Stadt und den geschützten Feuchtgebieten; dennoch wurde der Geruch vom Wind herangetragen, wie ein Vorbote des Verfalls, und an besonders windigen Tagen hatte Marguerite auch schon Papierfetzen und Lebensmittelverpackungen wie Steppenhexen am Einkaufszentrum entlangwehen sehen. Die Frage war so geläufig, dass niemand sich mehr die Mühe machte, sie explizit zu stellen: Wann wird es zu Ende gehen?
Denn es konnte jederzeit zu Ende gehen.
Tess war erschöpft und benommen vom Ort des Flugzeugabsturzes zurückgekehrt. Marguerite hatte sie in Decken eingewickelt, ihr heiße Suppe zu essen gegeben und sie anschließend ins Bett gesteckt. Tess hatte dann die Nacht durchgeschlafen — im Gegensatz zu Marguerite — und schien am nächsten Morgen wieder ganz die Alte zu sein. Schien war das Schlüsselwort. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Tess Mirror Girl mit keinem Wort erwähnt, und es hatte keine einschlägigen Vorfälle gegeben; aber Marguerite waren die Sorgenfalten auf Tessas Gesicht nicht entgangen, und sie hatte im Schweigen ihrer Tochter etwas Gewichtigeres gespürt als ihre übliche Schüchternheit.
Nur äußerst widerstrebend hatte sie Tess zu ihrem einwöchigen Besuch bei Ray geschickt, aber es gab dazu keine Alternative. Hätte sie sich gesträubt, würde Ray mit einiger Sicherheit einen seiner Aushilfspolizisten vom Sicherheitsdienst geschickt haben, um Tess mit Gewalt abzuholen. Mit größtem Unbehagen hatte Marguerite daher ihrer Tochter geholfen, ihre wichtigsten Besitztümer in den Rucksack zu packen, und sie dann nach draußen begleitet, als Ray mit seinem kleinen scarabäusfarbenen Auto am Straßenrand hielt.
Ray war nur ein Schattenriss im dunklen Innenraum des Wagens geblieben, nicht willens, ihr sein Gesicht zu zeigen. Er sah irgendwie verschwommen aus, dachte Marguerite, wie eine verblassende Erinnerung. Sie sah, wie Tess ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, die ihr als entweder aufgesetzt oder herzzerreißend naiv erschien.
Das einzig Positive an der Sache war, dass sie in der nun folgenden Woche mehr Zeit für Chris haben würde. Während sie in die Auffahrt bog, waren ihre Gedanken bei ihm.
Chris. Er hatte einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht mit seinen verwundeten Augen und seiner offensichtlichen Courage. Gar nicht zu reden von der Art, wie er sie berührte: wie jemand, der in eine warme Quelle tritt und erst einmal die Temperatur prüft, bevor er ganz ins Wasser eintaucht. Guter Chris. Unheimlicher Chris.
Unheimlich, weil die Anwesenheit eines Mannes im Haus — und das intime Verhältnis zu ihm — unliebsame Erinnerungen an Ray wachrief, wenn auch allein über den Kontrast vermittelt. Der Geruch von Aftershave im Bad, eine auf den Schlafzimmerfußboden geworfene Männerhose, männliche Wärme, die in den Ritzen des Bettes hing … mit Ray waren ihr all diese Dinge irgendwann nur noch hassenswert erschienen, so unangenehm wie ein blauer Fleck. Aber mit Chris war es das genaue Gegenteil. Gestern hatte sie sich nicht nur bereit erklärt, seine Sachen mit zu waschen, sie hatte sich zudem dabei ertappt, wie sie verstohlen seinen Geruch aus einem Unterhemd einatmete, bevor sie es in die Maschine gab. Lächerlich, wie ein Schulmädchen, dachte Marguerite. Wie gefährlich verschossen sie in diesen Mann war.
Anzunehmen aber, dass es jedenfalls therapeutische Wirkung hatte — als würde man das Gilt aus einer Schlangenbisswunde ziehen.
Es wurde viel über »Abriegelungsromanzen« gesprochen. War dies eine Abriegelungsromanze? Marguerites Erfahrungen waren begrenzt. Ray war nicht nur ihr erster Ehemann, sondern auch ihre erste ernsthafte Liebschaft gewesen. Marguerite hatte, wie Tess, in der Schule zu den Außenseitern gehört: intelligent, aber linkisch, nicht besonders hübsch und immer zu schüchtern, um den Mund aufzumachen, wenn sie unter Leuten war. Jungen mit diesen Eigenschaften wurden als »Geeks« bezeichnet, aber die schienen wenigstens Trost in der Gemeinschaft mit anderen ihresgleichen zu finden. Marguerite hatte nie echte Freunde, egal welchen Geschlechts, gehabt, jedenfalls nicht vor dem Fachstudium. Dort immerhin hatte sie Kollegen gefunden, Leute, die ihr Talent respektierten, die sie für ihre Ideen schätzten und von denen einige tatsächlich zu Freunden geworden waren.
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