Die Deckenlampen flackerten und wurden dunkler. Spannungsversorgungsmonitoren gaben schrillen Alarm.
»Bitte, Charlie«, sagte Marguerite. »Lassen Sie ihn nicht entgleiten.«
Chris war eben dabei, Tessas abrupter Handbewegung zu folgen, als er die Explosion hörte.
Es war kein besonders lautes Geräusch, nicht viel lauter als eine zugeschlagene Heckklappe, allerdings gewichtiger, voller rollender Untertöne, wie Gewitterdonnern. Er richtete sich auf und suchte den Himmel ab. Auch die anderen Rodler taten das, soweit sie nicht gerade mit ihren Schlitten auf dem Weg nach unten waren.
Zuerst sah er einen Rauchring, der sich ausdehnte, sehr blass vor dem Hintergrund der hohen Wolken und der blauen Himmelsabschnitte … dann das Flugzeug selbst, das in ziemlich weiter Ferne in einer gekrümmten Kurve zur Erde fiel.
Es fiel, war aber nicht hilflos. Der Pilot schien darum zu kämpfen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein kleines Privatflugzeug, kanariengelb, nichts, was irgendwie mit Militär zu tun hatte; Chris sah es im Schattenriss, als es für einen Moment horizontal flog, parallel zur Straße nach Blind Lake und vielleicht noch knapp hundert Meter vom Boden entfernt. Es kam näher, begriff er. Wollte der Pilot die Straße vielleicht als Landebahn benutzen.
Dann aber kam der Flug wieder ins Stocken, das Flugzeug geriet wild ins Trudeln und stieß schwarzen Rauch aus.
Jetzt ging es erneut abwärts und jetzt kam es immer näher. »Runter«, sagte er zu Tess. »Runter auf den Boden. Sofort.«
Das Mädchen bewegte sich nicht, blickte erstarrt auf das Geschehen. Chris drückte sie in den Schnee und deckte sie mit seinem Körper ab. Einige Leute auf dem Rodelberg fingen an zu schreien. Davon abgesehen, war die Stille des Nachmittags geradezu unheimlich geworden: Die Flugzeugmotoren hatten ausgesetzt. Es müsste eigentlich mehr Lärm machen, dachte Chris. All das herunterfallende Metall.
Das Flugzeug traf am Nordende der Wendeschleife des Parkplatzes auf, nachdem es sich noch kurz hochreißen konnte, um die Kollision mit einem leuchtend roten Ford-Transporter zu vermeiden; die ganze kinetische Energie verwandelte sich in einen Schweif aus roten und gelben Trümmern, der Gräben und Krater in den tiefen Schnee schnitt. Tessas Körper erzitterte bei dem Geräusch. Die Splitter flogen nach Osten, vom Rodelberg weg, und sie prasselten noch immer mit vom Schnee gedämpften Schlägen nieder, als das Wrack in Flammen aufging.
Chris zog Tess zurück in eine sitzende Haltung.
Sie saß wie katatonisch da, starre Arme, starrer Blick, kein Blinzeln.
»Tess«, sagte er. »Hör mir zu. Ich muss da helfen, aber ich möchte, dass du hierbleibst. Knöpf dir die Jacke zu, wenn dir kalt wird, wende dich an irgendeinen anderen Erwachsenen, wenn du Hilfe brauchst, ansonsten aber warte auf mich, okay?«
»Glaub schon.«
»Warte auf mich.«
»Auf dich warten«, sagte sie stumpf.
Es gefiel ihm nicht, wie sie sprach und sich verhielt, aber sie war nicht verletzt, und in dem brennenden Wrack waren vielleicht noch Überlebende. Er umarmte sie kurz, zur Beruhigung, wie er hoffte, und stürmte dann den Hang hinunter, riss Löcher in den vom Rodeln verdichteten und glitschig gewordenen Schnee.
Er erreichte das brennende Flugzeug zusammen mit drei anderen Erwachsenen, zwei Männern und einer Frau, vermutlich alles Eltern, die mit ihren Kindern Rodeln gegangen waren. Soweit es irgend ging, näherte er sich dem Feuer, dessen Hitze ihm in die Gesichtshaut biss und Schnee in der Luft verdampfen ließ. An einigen wässrigen Stellen glitzerte bereits das Pflaster hindurch. Von dem Transporter — dessen Dach abrasiert worden war — konnte er genug erkennen, um zu wissen, dass sich niemand darin befunden hatte. Anders sah es in dem kleinen Flugzeug aus. Hinter seinem heftig kochenden Motor drängte eine zappelnde menschliche Gestalt gegen das beschlagene Glas der Cockpittür.
Chris schälte sich aus seiner Stoffjacke und wickelte sie um seine rechte Hand.
Später sollte Marguerite zu ihm sagen, er habe »heroisch« gehandelt. Möglich. Es kam ihm nicht so vor. Vielmehr empfand er es als das, was zu tun einfach nahegelegen hatte. Er hätte es vielleicht nicht versucht, wenn das Feuer nicht relativ eingegrenzt, wenn mehr Benzin im Flugzeug gewesen wäre. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, irgendwelche Risikoabschätzungen durchgeführt zu haben. Er hatte nur gesehen, was zu tun war. Er fühlte die Hitze auf seinem Gesicht, das Prickeln der Haut, von hinten kalte Luft, die auf die Flammen zuwehte. Die im eingedrückten Cockpit undeutlich zu erkennende Gestalt zuckte ein paarmal, dann rührte sie sich nicht mehr. Die Tür fühlte sich selbst durch die Stoffschichten seiner Jacke noch heiß an. Sie stand einen Spalt offen, klemmte aber im Rahmen fest. Chris zog vergeblich daran herum, trat ein paar Schritte zurück, um zwischendurch etwas kühlere Luft zu atmen, dann trat er wuchtig gegen das zusammengedrückte Aluminium. Ein-, zwei-, dreimal, bis es weit genug durchgebogen war, dass er die Tür mit seiner inzwischen glimmenden Jacke richtig zu fassen bekam und nun mit vollem Krafteinsatz ziehen konnte.
Der Pilot kippte wie ein Fleischsack auf den feuchten Boden. Sein Gesicht war haarlos und geschwärzt, an manchen Stellen nur noch eine schockierend rote, verkohlte Masse. Er trug eine Fliegerbrille, eins der Gläser fehlte, das andere war kraqueliert. Aber er atmete noch. Seine Brust hob und senkte sich in wogenden Wellen.
Die Männer hinter ihm kamen herbeigeeilt, um den Piloten von dem Wrack wegzuziehen. Chris verharrte, ohne dass er recht wusste, warum. War da noch mehr, was er zu tun hatte? Von der Hitze war ihm schwindlig geworden. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, fühlte, wie auch er aus dem Bereich der Flammen gezerrt wurde. Nur ein paar Schritte weiter schien die Luft schon dramatisch kälter, viel kälter als vorher auf dem Rodelberg. Wankend stolperte er noch ein Stück weiter, setzte sich dann auf die Motorhaube eines unbeschädigt gebliebenen Autos und ließ den Kopf hängen. Jemand brachte ihm eine Flasche Wasser. Er leerte sie fast in einem Zug, obwohl ihm davon noch mehr übel wurde. Er hörte die heulende Sirene eines Rettungswagens auf der Straße nach Blind Lake.
Tess, dachte er. Tess auf dem Hügel.
Wie viel Zeit war vergangen? Er blickte zum Hang, hielt Ausschau nach ihr. Inzwischen waren alle heruntergekommen, hatten sich auf dem Parkplatz versammelt, in sicherer Entfernung von dem brennenden Flugzeug, alle außer Tess. Er hatte ihr gesagt, sie solle bleiben, wo sie war, und sie hatte das wörtlich genommen. Er rief nach ihr, aber sie war zu weit weg, um ihn zu hören.
Erschöpft stieg er wieder nach oben. Tess stand regungslos da, starrte auf die Trümmer. Sie zeigte keine Reaktion, als er sie ansprach. Nicht gut — offenbar stand sie unter Schock.
Chris kniete sich vor ihr hin, hielt sein Gesicht in ihre Blicklinie und legte seine Hände auf ihre kleinen Schultern. »Tess«, sagte er. »Tess, alles in Ordnung?«
Sie antwortete nicht, nach einer Weile aber begann sie zu zittern. Ihr Körper bebte. Blinzelnd öffnete sie den Mund, doch es kam kein Ton heraus.
»Wir müssen dich ins Warme bringen«, sagte er.
Sie lehnte sich gegen ihn und begann zu weinen.
Marguerite verlor Charlie im lärmenden Chaos des Kontrollraums aus den Augen.
Für einen Sekundenbruchteil herrschte vollständige Dunkelheit — ein totaler Stromausfall. Dann gingen die Lichter flackernd wieder an und der Raum war von Stimmen erfüllt. Marguerite verdrückte sich in eine freie Ecke, um nicht im Weg zu stehen. Sie konnte nichts Hilfreiches tun und war verständig genug, sich nicht einzumischen.
Etwas Schlimmes war passiert, etwas, das sie nicht verstand, etwas, das die Ingenieure zu hektischer Aktivität veranlasste. Sie konzentrierte sich auf den großen Wandbildschirm, die Direktübertragung aus dem Auge, erschreckenderweise noch immer ohne Bild. Es konnte jederzeit zu Ende gehen.
Читать дальше