Sue wunderte sich über die Feindseligkeit, ja den Hohn in der Stimme der Frau und über Sebastians offenbar gleichmütige Reaktion.
Serviert wurde das seit der Abriegelung unvermeidliche Mittagessen: Suppe und Sandwiches. Sue gab höfliche Laute von sich, beschränkte sich aber ansonsten darauf, dem Gespräch der anderen zu lauschen. Sie politisierten über Blind Laker Angelegenheiten, unter anderem mit Bezug auf gewisse Spekulationen Ray Scutter betreffend, und machten sich Gedanken über die immer wiederkehrende Frage der Belagerung. Sie tauschten Erinnerungen aus über Leute, von denen Sue noch nie gehört hatte, sodass sie schließlich das Gefühl gewann, das man sie gar nicht mehr auf der Rechnung hatte, obwohl Sebastians Hand die ganze Zeit auf ihrem Schenkel unter dem Tisch lag und sie zur Bestärkung von Zeit zu Zeit drückte.
Schließlich kam ein bisschen Klatsch zur Sprache, mit dem sie etwas anfangen konnte. Es stellte sich heraus, dass Chris bei Ray Scutters Ex wohnte, und Ray offenbar vor ein paar Wochen eine kleine Macho-Show vor der Ambulanz abgezogen hatte. Es klang nach einer typischen Kotzbrockigkeit à la Ray Scutter, und Sue enthielt sich nicht, das zu sagen.
Elaine starrte sie auf enervierende Weise an. »Was wissen Sie über Ray Scutter?«
»Ich leite sein Büro.«
Ihre Augen weiteten sich. »Sie sind seine Sekretärin?«
»Leitende Assistentin. Na ja, gut, Sekretärin im Grunde.«
»Hübsch und talentiert«, sagte Elaine zu Sebastian, der darauf nur sein undurchdringliches Lächeln aufsetzte. Sie konzentrierte sich wieder auf Sue, die gegen den Drang ankämpfte, vor dem Laserblick der Frau zurückzuweichen. »Also, was alles wissen Sie über Ray Scutter?«
»Was sein Privatleben betrifft, nichts. Was die Arbeit betrifft, so ziemlich alles.«
»Er redet mit Ihnen darüber?«
»Gottchen, nein. Ray lässt sich nicht gern in die Karten gucken, hauptsächlich, weil er das Ass der Inkompetenz in der Hand hält. Kennen Sie das, wenn Leute, die überfordert sind, sich mit allerlei Routinearbeit beschäftigen, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass sie sich nützlich machen? Nun, das ist Ray. Er teilt mir nichts mit, aber die Hälfte der Zeit muss ich ihm seinen Job erklären.«
»Wissen Sie«, sagte Elaine. »Es gibt Gerüchte über Ray.«
Oder vielleicht, dachte Sue, bin auch ich überfordert. »Was für Gerüchte?«
»Dass Ray sich in die Server der Leitungsebene einhacken will, um deren E-Mails zu lesen.«
»Oh. Na ja, das ist …«
Ein Summen ertönte. Chris Carmody zog sein Telefon aus der Tasche, wandte sich ab und flüsterte in die Muschel. Elaine warf ihm einen giftigen Blick zu.
Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, sagte er: »Tut mir leid, Leute, ich muss los. Marguerite braucht jemanden, der auf ihre Tochter aufpasst.«
»Meine Güte«, sagte Elaine, »machen denn jetzt alle auf Häuslichkeit in diesem Scheißkaff? Sind Sie jetzt seit neuestem Babysitter oder was?«
»Eine Art Notfall, sagt Marguerite.« Er erhob sich.
»Na, dann gehen Sie.« Sie verdrehte die Augen. Sebastian nickte freundlich.
»War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Chris zu Sue.
»Ebenfalls.« Er schien wirklich ganz nett zu sein, wenn auch ein bisschen unruhig und abgelenkt. Jedenfalls war er eine angenehmere Gesellschaft als Elaine mit ihrem Röntgenblick.
Den Elaine auch sofort wieder auf sie richtete, als Chris sich vom Tisch entfernte. »Dann ist es also wahr? Ray betreibt verbotene Hackerei?«
»Ob verboten, weiß ich nicht. Er hat die Absicht, es öffentlich bekanntzugeben. Die Idee ist, dass Nachrichten, die vor der Abriegelung auf den Servern eingegangen sind, uns Aufschluss über die Ursache geben könnten.«
»Falls irgendwelche Nachrichten vor der Abriegelung eingegangen sind, wieso hat dann Ray keine bekommen?«
»Bevor all die Leitungskräfte zur Konferenz nach Cancun aufgebrochen sind, war er nicht hoch genug platziert auf dem Management-Totempfahl. Außerdem ist er relativ neu hier. Er hatte Kontakte in Crossbank, aber nicht das, was man Freunde nennen würde. Ray schließt keine Freundschaften.«
»Das gibt ihm das Recht, in gesicherte Server einzubrechen?«
»Das glaubt er, ja.«
»Er glaubt es, aber hat er auch entsprechend gehandelt?«
Sue überdachte ihre Lage. Mit der Presse zu reden, wäre ein ausgezeichneter Grund, gefeuert zu werden. Zweifellos würde Elaine ihr vollständige Anonymität zusichern. (Oder Geld, wenn sie danach verlangte. Oder den Mond.) Aber Versprechungen waren wie faule Schecks, leicht auszustellen und schwer einzulösen. Ich mag blöd sein, dachte Sue, aber ich bin nicht annähernd so blöd, wie diese Frau anscheinend glaubt.
Sie dachte an Sebastian. Wollte Sebastian, dass er über diese Dinge redete? Sie sah ihn fragend an. Sebastian saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Hände auf dem Bauch gefaltet; ein Spritzer Senf schmückte seinen Bart. Er tat geheimnisvoll wie eine ausgestopfte Eule. Aber er nickte ihr zu.
Okay?
Okay. Sie würde es für ihn tun. Nicht für Elaine.
Sie leckte sich die Lippen. »Schulgin war gestern im Gebäude, zusammen mit einem Computermenschen.«
»Um die Server zu knacken?«
»Was glauben Sie? Aber ich hab sie nicht auf frischer Tat ertappt oder so.«
»Was haben sie erreicht?«
»Nichts, soweit ich weiß. Sie waren immer noch zugange, als ich am Freitag nach Hause gegangen bin.« Vielleicht sind sie immer noch da, dachte Sue, und durchsieben das Silizium nach Gold.
»Falls sie irgendwas Interessantes finden, würde diese Information über Ihren Schreibtisch gehen?«
»Nein.« Sie lächelte. »Aber über Rays.«
Sebastian wirkte plötzlich beunruhigt. »Ist ja alles sehr interessant«, sagte er. »Aber lass dich nicht von Elaine beschwatzen, irgendetwas Gefährliches zu tun.« Seine Hand lag wieder auf ihrem Schenkel, übermittelte ihr eine Nachricht, die sie nicht entschlüsseln konnte. »Es sind in erster Linie ihre eigenen Interessen, die Elaine am Herzen liegen.«
»Ach, halten Sie die Klappe, Sebastian«, giftete Elaine.
Sue war ein bisschen schockiert. Umso mehr, als Sebastian einfach nur nickte und erneut sein Buddha-Lächeln aufsetzte.
»Könnte sein, dass ich so etwas sehe«, sagte Sue. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Falls Sie es tun …«
»Elaine, Elaine«, sagte Sebastian. »Überspannen Sie den Bogen nicht.«
»Ich denk drüber nach«, sagte Sue. »Okay? Reicht das? Können wir jetzt über etwas anderes reden?«
Sie hatten ihre Karaffe mit Kaffee geleert und die Kellnerin war nicht gekommen, um nachzuschenken. Elaine schickte sich an, in ihre Jacke zu schlüpfen. Sebastian sagte: »Übrigens, ich bin gebeten worden, einen kleinen Vortrag im Gemeindezentrum zu halten, im Rahmen von Aris Gesellschaftsabenden.«
»Reklame für Ihr Buch machen?«, fragte Elaine.
»In gewisser Weise. Ari hat Schwierigkeiten, diese Samstagstermine zu besetzen. Wahrscheinlich wird er als Nächstes Sie fragen.«
Sue freute sich zu sehen, dass Elaine dies mit einigem Schrecken hörte. »Danke, aber ich hab Besseres zu tun.«
»Ich überlasse es Ihnen, Ari das mitzuteilen.«
»Ich geb's ihm schriftlich, wenn er möchte.«
Sebastian entschuldigte sich und steuerte die Toilette an. Nach einigen Augenblicken verlegenen Schweigens sagte Sue, noch immer verärgert: »Es mag Ihnen nicht gefallen, was Sebastian schreibt, aber trotzdem verdient er ein wenig Respekt.«
»Haben Sie sein Buch gelesen?«
»Ja.«
»Im Ernst? Wovon handelt es?«
Sue wurde unversehens rot. »Es handelt vom Quantenvakuum. Das Quantenvakuum ist ein Medium für … äh … eine Art Intelligenz …« Und das, was wir als menschliches Bewusstsein bezeichnen, ist nämlich in Wirklichkeit unsere Fähigkeit, einen winzig kleinen Teil von diesem universellen Geist anzuzapfen. Es war jedoch ausgeschlossen, dass sie darüber mit Elaine sprach. Sie kam sich schon jetzt furchtbar töricht vor.
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