Marguerite hatte sie auf den Vorfall angesprochen, am Tag, nachdem sie in der Ambulanz gewesen waren. Von den Schmerzmitteln war Tess ein bisschen schläfrig und verbrachte den ganzen Nachmittag im Bett, hin und wieder ein Buch zur Hand nehmend, aber insgesamt zu zerstreut, um lange zu lesen. Marguerite setzte sich auf ihre Bettkante. »Ich dachte, damit wären wir durch gewesen«, sagte sie. »Dinge zu zerbrechen.« Nicht vorwurfsvoll. Nur neugierig.
»Ich hab mich gegen das Fenster gelehnt«, wiederholte Tess, aber sie musste Marguerites Skepsis wohl gespürt haben, denn schließlich seufzte sie und sagte ein wenig kleinlaut: »Sie hat mich einfach überrascht.«
»Mirror Girl?«
Nicken.
»Ist sie in letzter Zeit wieder öfter da gewesen?«
»Nein«, sagte Tess; dann: »Nicht viel. Deswegen hat sie mich ja überrascht.«
»Hast du daran gedacht, was Dr. Leinster damals in Crossbank gesagt hat?«
»Mirror Girl ist nicht real. Sie ist irgendwie ein Teil von mir, den ich nicht sehen möchte.«
»Glaubst du, dass das stimmt?«
Tess zuckte die Achseln.
»Na ja, sag ruhig, was du wirklich glaubst.«
»Ich meine, wenn ich sie gar nicht sehen will, warum kommt sie dann immer wieder?«
Gute Frage, dachte Marguerite. »Sieht sie immer noch so aus wie du?«
»Genau gleich.«
»Woher weißt du dann, dass sie es ist?«
Tess zuckte die Achseln. »Ihre Augen.«
»Was ist mit ihren Augen?«
»Zu groß.«
»Was will sie, Tess?« Sie hoffte, dass ihre Tochter die Panik in ihrer Stimme nicht hörte, das Stocken ihres Atems. Mit meinem Mädchen ist etwas nicht in Ordnung. Mein Baby.
»Ich glaube, sie will einfach, dass ich Acht gebe.«
»Worauf, Tess? Auf sie?«
»Nein, nicht nur auf sie. Auf alles. Alles, die ganze Zeit.«
»Weißt du noch, was Dr. Leinster dir beigebracht hat?«
»Mich beruhigen und warten, dass sie weggeht.«
»Funktioniert das noch?«
»Glaub schon. Manchmal vergess ich's halt.«
Dr. Leinster hatte Marguerite mitgeteilt, dass Tessas Symptome zwar ungewöhnlich seien, aber doch längst nicht bis zu einer systematischen Wahnvorstellung reichten, die auf Schizophrenie hindeuten könnte. Keine drastischen Stimmungsschwankungen, kein aggressives Verhalten, gute zeitliche und räumliche Orientierung, der Gemütsausdruck etwas gedämpft, aber durchaus im Rahmen, sie zeigt Einsicht in ihr Problem, keine offensichtlichen neurochemischen Gleichgewichtsstörungen. All dieser psychiatrische Quark, der letzten Endes auf Dr. Leinsters banale Zusammenfassung hinauslief: Wahrscheinlich wird es mit zunehmendem Alter besser werden.
Aber Dr. Leinster hatte nicht Tessas blutgetränkten Pyjama waschen müssen.
Marguerite schaute wieder in ihr Tagebuch. Ihr klammheimlicher Verstoß gegen das Verbot des Geschichtenerzählens. Noch längst nicht auf dem aktuellen Stand: Da war zum Beispiel noch nichts über die Ruinen an der Straße nach Osten … aber für heute Abend reichte es.
Unten, stellte sie fest, waren die Lichter noch an. In der Küche saß Chris bequem zurückgelehnt, die Füße auf einen anderen Stuhl gelegt, und aß Roggentoast, wahrend er im Astrogeological Review vom letzten September blätterte. »Ich wollte mir nur noch einen Schlummertrunk machen«, sagte Marguerite. »Kümmern Sie sich gar nicht um mich.«
Orangensaft mit einem Schuss Wodka, das Mittel der Wahl, wenn sie sich zu ruhelos fühlte, um schlafen zu können. So wie heute. Sie zog einen dritten Stuhl unter dem Küchentisch hervor und legte ihre in Pantoffeln steckenden Füße neben denen von Chris ab. »Langer Tag?«, fragte sie.
»Ich habe mich noch mal mit Charlie Grogan drüben im Auge getroffen«, sagte Chris.
»Wie nimmt Charlie denn die ganze Sache auf?«
»Die Isolierung? Ach, das kümmert ihn nicht übermäßig, obwohl, er meinte, er müsste Boomer inzwischen Rinderhack zu fressen geben. Der Laster liefert kein Hundefutter. Hauptsächlich macht er sich Sorgen um das Auge.«
»Was ist mit dem Auge?«
»Es gab wieder eine kleine Kaskade von technischen Störungen, während ich da war.«
»Tatsächlich? Ich habe gar keine Mitteilung darüber bekommen.«
»Charlie meint, es seien nur die üblichen Unregelmäßigkeiten, aber sie treten in letzter Zeit häufiger auf — Überspannungen und eine etwas ausgefranste Ein-/Ausgabe. Was ihm aber wirklich zu schaffen macht, glaube ich, ist die Möglichkeit, dass jemand den Stecker ziehen könnte. Er hat diese O/BEKs so lange betreut, dass sie fast so etwas wie Kinder für ihn geworden sind.«
»Das ist doch alles Blödsinn«, sagte Marguerite, »dieses Gerede vom Abschalten«, doch es klang nicht sehr überzeugend, nicht einmal für sie selbst. Sie machte einen unbeholfenen Versuch, das Thema zu wechseln. »Normalerweise reden Sie nicht viel über Ihre Arbeit.«
Sie hatte ihren Drink schon halb ausgetrunken und fühlte, wie der Alkohol sich lächerlich schnell durch ihren Körper arbeitete, sie schläfrig machte, aber auch leichtsinnig.
»Ich versuche, sie von Ihnen und Tess fernzuhalten«, sagte Chris. »Ich bin dankbar, überhaupt hier sein zu können. Da will ich nicht auch noch meine Probleme auftischen.«
»Ach, nicht doch. Wir kennen uns jetzt, wie lange, mehr als einen Monat? Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist, was immer die Leute über Ihr Buch sagen. Sie kommen mir nicht verlogen oder boshaft vor.«
»Verlogen oder boshaft? Das ist es, was die Leute sagen?«
Marguerite wurde rot.
Aber Chris lächelte. »Hab ich alles schon gehört, Marguerite.«
»Ich würde das Buch gerne mal lesen.«
»Seit der Abriegelung kann man es nicht mehr downloaden. Vielleicht wirkt sich das für mich vorteilhaft aus.« Sein Lächeln verlor ein wenig an Überzeugungskraft. »Ich kann Ihnen aber ein gedrucktes Exemplar geben.«
»Da würde ich mich freuen.«
»Und ich freue mich über das Vertrauensvotum. Marguerite?«
»Ja?«
»Was würden Sie davon halten, mir ein Interview zu geben? Über Blind Lake, die Belagerung, wie Sie damit umgehen?«
»O Gott.« Die Frage war nicht das, was sie erwartet hatte. Aber was hatte sie erwartet? »Na ja, nicht heute Abend.«
»Nein, nicht heute Abend.«
»Das letzte Mal, dass mich jemand interviewt hat, das war für die Schülerzeitung an der Highschool. Über mein Naturwissenschaftsprojekt.«
»Gutes Projekt?«
»Erster Preis. Stipendium. Es ging um mitochondrische DNA, damals wollte ich noch Genetikerin werden. Ziemlich heftiges Zeug für die Tochter eines Geistlichen.«
Spontan — oder vielleicht auch ein wenig betrunken — legte Marguerite ihre Hand auf den Tisch, mit der Innenfläche nach oben. Es war eine Geste, die er ohne Weiteres ignorieren konnte. Und es würde kein Schaden entstehen, wenn er sie ignorierte.
Chris sah die Hand an, vielleicht ein paar Augenblicke zu lange, dann legte er seine obenauf. Tat er es gerne? Widerstrebend, unwillig?
Es war angenehm, seine Hand zu spüren. Kein männlicher Erwachsener hatte ihre Hand gehalten, seit sie Ray verlassen hatte — nicht dass Ray ein großer Händchenhalter gewesen wäre. Sie stellte fest, dass sie Chris nicht in die Augen sehen konnte. Ein wenig noch ließ sie den Augenblick sich dehnen, dann zog sie, verlegen grinsend, ihre Hand zurück. »Ich muss ins Bett«, sagte sie.
»Schlafen Sie gut«, sagte Chris.
»Sie auch«, antwortete sie und fragte sich, worauf sie sich da einließ.
Bevor sie in ihr Schlafzimmer ging, warf sie noch kurz einen Blick auf die Direktübertragung aus dem Auge.
Es tat sich nicht viel. Das Subjekt setzte seine seit zwei Wochen andauernde Odyssee fort. Es war schon weit auf der nach Osten führenden Straße gekommen, und gerade wanderte es unverdrossen in einen neuen Morgen hinein. Seine Haut schien immer grauer zu werden, aber das lag wahrscheinlich nur am Staub. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, was allerdings typisch war für die Sommermonate in diesen Breiten des Planeten.
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