»Das ist alles Gerede«, sagte Ray.
»Bisher ist alles Gerede, ja. Aber auf lange Sicht — falls die Abriegelung weiter aufrecht erhalten wird —, wer weiß?«
»Wir sollten etwas Positives tun und dafür sorgen, dass alle es mitkriegen.«
»Wenn man den Eindruck erwecken könnte, dass etwas unternommen wird«, sagte Schulgin mit seinem geschwollenen Akzent, der jegliche Ironie zuverlässig kaschierte, »wäre das hilfreich.«
»Wissen Sie«, sagte Ray, »mein Schreibtisch ist kürzlich aufgebrochen worden.«
»Ihr Schreibtisch?« Schulgins raupenartige Augenbrauen zuckten nach oben. »Aufgebrochen? Also Vandalismus, Diebstahl?«
Ray winkte mit einer Geste ab, die Großmut signalisieren sollte. »Eine triviale Sache, bestenfalls Bürovandalismus, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht. Wie wär's, wenn wir eine Untersuchung einleiten würden?«
»Eine Untersuchung des Vandalismus an Ihrem Schreibtisch?«
»Nein, um Himmels willen, der Isolierung.«
»Eine Untersuchung? Wie sollen wir das machen? Alle Hinweise befinden sich auf der anderen Seite des Zauns.«
»Nicht unbedingt.«
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Es gibt eine Theorie, die besagt, dass wir abgeriegelt werden, weil irgendetwas in Crossbank passiert ist, etwas Gefährliches, etwas, das mit ihren O/BEKs zu tun hat, etwas, das genauso gut hier passieren könnte.«
»Ja, weswegen auch die Forderung immer lauter wird, unsere eigenen Prozessoren abzuschalten, aber …«
»Vergessen Sie mal für einen Moment die O/BEKs. Denken Sie an Crossbank. Falls Crossbank ein Problem hatte, müssten wir dann nicht davon gehört haben?«
Schulgin überlegte. Er rieb sich mit dem Finger über die Nase. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Alle höheren Verwaltungsleute waren in Cancun, als die Tore geschlossen wurden. Sie wären die Ersten gewesen, die es erfahren hätten.«
»Ja.« Sanft trieb Ray den Gedanken auf seine Schlussfolgerung zu. »Aber es könnten Nachrichten auf ihren Personal-Servern eingegangen sein, bevor die Quarantäne in Kraft trat.«
»Dringende Sachen wären weitergeleitet worden …«
»Aber Kopien davon wären noch immer auf den Blind-Lake-Servern, nicht wahr?«
»Na ja … vermutlich. Es sei denn, jemand hätte sich die Mühe gemacht, sie zu löschen. Aber wir können nicht einfach in die Personal-Server des Leitungspersonals reingehen.«
»Nicht?«
Schulgin zuckte die Achseln. »Das würde ich jedenfalls denken.«
»Unter normalen Umständen würde sich die Frage gar nicht stellen. Die Umstände sind freilich alles andere als normal.«
»Die Server knacken, ihre Mails lesen. Ja, das ist interessant.«
»Und falls wir irgendetwas Nützliches finden, sollten wir es auf einer Generalversammlung verkünden.«
»Falls es etwas Verkündenswertes gibt. Außer Voicemails von Ehefrauen oder Geliebten. Soll ich mal mit meinen Leuten reden, mich erkundigen, wie schwierig es wäre, in die Server reinzukommen?«
»Ja, Dimi«, sagte Ray. »Tun Sie das.«
Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm das Vorhaben. Als er zum Mittagessen ging, hatte sich seine Laune entschieden gebessert.
Rays Stimmungen waren jedoch höchst unbeständig, und abends, beim Verlassen der Plaza, war er schon wieder reichlich angefressen. Die Sache mit den DingDongs. Sue hatte die Geschichte wahrscheinlich ihren Freundinnen in der Cafeteria weitererzählt. Jeder Tag brachte eine neue Demütigung. Er aß halt gern DingDongs zum Frühstück: Was war daran so verdammt lustig, so zum Lachen anomal? Alles Arschlöcher, dachte Ray wütend.
Er fuhr vorsichtig durch heftige Schneeschauer, versuchte ohne großen Erfolg, die Ampeln an der Hauptstraße abzupassen.
Ja, die meisten Leute waren Arschlöcher, und genau das wollten die Exokulturtheoretiker einfach nicht kapieren, Leute wie Marguerite, blinde kleine Federgewichtsoptimisten. Eine Welt voller Arschlöcher war ihnen noch nicht genug. Sie wollten noch mehr. Sie wollten ein ganzes lebendiges Arschloch von einem Universum, einen glänzend rosafarbenen, organischen Kosmos, einen Zauberspiegel, aus dem ein fröhliches Gesicht strahlt.
Dunkelheit schloss sich wie ein Vorhang um den Wagen. Wie viel sauberer die Welt doch wäre, dachte Ray, wenn sie weiter nichts enthielte als Gas und Staub und gelegentlich mal einen aufflackernden Stern — kalt, aber ohne Makel, wie der Schnee, der die wenigen hohen Türme von Blind Lake einhüllte. Die einzige Lektion, die aus Hummerhausen zu ziehen war, war eine politisch inkorrekte, war die unaussprechliche, aber offensichtliche Tatsache, dass Intelligenz (die sogenannte) nichts anderes war als geballte Irrationalität, ein Ensemble von Verhaltensweisen, von der DNA entworfen, um mehr DNA zu produzieren, frei von jeglicher Logik außer einer keiner Kontrolle unterliegenden Mathematik der Selbstreproduktion. Chaos mit Feedback, z > z 2+ c, blind wiederholt, bis das Universum sich selbst aufgefressen und ausgeschissen hatte.
Mich eingeschlossen, dachte Ray. Dieser ätzenden Wahrheit musste man sich stellen. Alles, was er liebte (seine Tochter) oder zu lieben geglaubt hatte (Marguerite), repräsentierte nichts weiter als seine Teilhabe an dieser Gleichung, war nicht mehr oder weniger vernünftig als das nächtliche Bluten der Eingeborenen von UMa47/E. Marguerite zum Beispiel: eine Verkörperung mangelhafter Gencodes, die besitzergreifende, aber ungeeignete Mutter, eine wandelnde Gebärmutter, die auf Gleichheit vor dem Gesetz pochte. Wie penetrant sie sich noch immer in seine Gedanken einschlich. Jede Unverschämtheit, die Ray zu erdulden hatte, war ein Spiegel ihres Hasses.
Das Garagentor rollte auf, als seine Sensoren das Nahen des Wagens registrierten. Er parkte unter dem gleißenden Licht der Deckenlampe.
Er fragte sich, wie es wäre, sich von all diesen biologischen Zwängen zu befreien und die Welt so zu sehen, wie sie wirklich war. Ein einziger Schrecken für unsere Augen, dachte Ray, trostlos und feindlich, aber unsere Augen sind Lügner, ebenso Sklaven der DNA wie unser Herz und unser Verstand. Vielleicht war es das, wozu die O/BEKs geworden waren: ein unmenschliches Auge, fähig, Dinge zu sehen, die niemand als wahr akzeptieren wollte.
Tessa war diese Woche wieder bei ihm. Er rief Hallo, als er das Haus betrat. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sessel neben dem künstlichen Weihnachtsbaum, über ihre Hausaufgaben gebeugt wie ein bildungsbeflissener Zwerg. »Hi«, sagte sie teilnahmslos. Ray blieb einen Moment lang stehen, überrascht von seiner Liebe zu ihr, in Bewunderung der dichten Locken, die ihr Haar um den Schädel flocht. Sie schrieb auf dem Bildschirm eines kleinen Handgeräts, das ihre kindhafte Kritzelei in lesbare Zeichen übersetzte.
Er zog Mantel und Überschuhe aus und ließ die verschneite Dunkelheit draußen hinter den Jalousien verschwinden. »Hast du deine biologische Mutter schon angerufen?«
Die Vereinbarung, die er nach der Schlichtung mit Marguerite geschlossen hatte, sah vor, dass Tess täglich mit dem abwesenden Elternteil telefonierte. Tess sah ihn neugierig an. »Meine biologische Mutter?«
Hatte er das wirklich laut gesagt? »Ich meine, deine Mutter.«
»Ja, hab ich.«
»Hat sie irgendwas Unangenehmes gesagt? Du weißt, du kannst es mir sagen, wenn deine Mutter dir Probleme bereitet.«
Tess zuckte verlegen die Achseln.
»War der Fremde bei ihr, als du angerufen hast? Der Mann, der im Keller wohnt?«
Tess zuckte erneut die Achseln.
»Zeig mir deine Hand«, sagte Ray.
Man musste kein Genie sein, um darauf zu kommen, dass die Probleme, die Tessa in Crossbank gehabt hatte, auf Marguerites Konto gingen, auch wenn der Scheidungsmediator nicht in der Lage gewesen war, das zu erkennen. Marguerite hatte sich überhaupt nicht um Tess gekümmert, hatte sich einzig und allein für ihre geliebten extraterrestrischen Meereslandschaften interessiert, worauf Tess mehrere verzweifelte, in ihrer Motivation unmissverständliche Versuche gemacht hatte, Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Furcht erregende Fremde im Spiegel mochte gut und gern Marguerites Subjekt selbst gewesen sein — verstohlen, fordernd und allgegenwärtig.
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