Über weite Teile des Vormittags war das Subjekt gezwungen, auf dem Randstreifen der Straße zu gehen, um dem Verkehr auszuweichen. Nach den Planetenkarten, die verfertigt worden waren, bevor die O/BEKs sich auf ein einzelnes Subjekt einstellten, verlief diese Straße über fast hundert Kilometer nach Osten in ein Trockengebiet, schwenkte dann nach Norden durch eine Reihe von niedrigen Bergen (Vorgebirge einer höheren Kette) und dann erneut nach Osten, bis sie. nach einigen hundert Kilometern durch eine spärlich bewachsene Hochebene, zu einer anderen Eingeborenenstadt führte, die bislang noch nicht namentlich bezeichnete 33°-Breite-42°-Länge-Urbanisation. 33/42 war eine kleinere Stadt als jene, in der das Subjekt zu Hause war, jedoch als Handelspartner bekannt.
Große Laster fuhren in beide Richtungen — riesige Plattformen, die mit einfachen, aber hoch entwickelten und effektiven Motoren ausgestattet waren und sich auf gewaltigen festen Rollen statt auf Rädern bewegten. (Dies mag man als ein Beispiel für hiesige Effizienz nehmen. Die Laster erhalten und pflegen die unbefestigten Straßen einfach dadurch, dass sie auf ihnen fahren.) Und es gab jede Menge Fußgänger, in Paaren, Dreier- oder größeren Gruppen von watschelnden Individuen, aber keine weiteren Einzelgänger. Deutete die einzigartige Reiseform auf ein einzigartiges Reiseziel hin?
Gegen Mittag erreichte das Subjekt das Ende des Ackerlandes. Die Straße wurde breiter, als sie die Sukkulentenwände hinter sich ließ. Geradeaus war der Horizont flach, im Norden gebirgig. Die Berge zitterten in den aufsteigenden Hitzewellen. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, legte das Subjekt eine Pause ein. Es verließ die Straße, um ein paar hundert Meter zu einer Schatten spendenden Formation von hohen Basaltfelsen zu gehen, wo es ausgiebig auf den sandigen Boden urinierte, dann auf einen der Felsensockel kletterte und nach Norden gewandt stehen blieb. Die Atmosphäre zwischen Subjekt und den Bergen war von schwebendem Staub weiß eingefärbt, und die schneebedeckten Gipfel schienen über dem Wüstenbecken zu kauern.
Vielleicht ruhte es sich aus, oder vielleicht nahm es die Luft in sich auf oder plante die nächste Etappe seiner Reise, jedenfalls stand es fast eine Stunde lang reglos da. Dann ging es zur Straße zurück und nahm, nachdem es aus dem Straßengraben einen Schluck getrunken hatte, seine Wanderung wieder auf.
Es wanderte in stetigem Tempo den ganzen Nachmittag hindurch. Bei Einbruch der Nacht hatte es auch die letzten Anzeichen von Landbau — alte, seit längerer Zeit brachliegende Felder und von Sandstürmen teilweise zugewehte Bewässerungsgräben — hinter sich gelassen und bewegte sich in das Wüstenbecken zwischen den Bergen im Norden und dem weit im Süden gelegenen Meer hinein. Der Verkehr auf der Straße formierte sich nun in Konvois; inzwischen war das Subjekt hinter den letzten Fahrzeugen dieses Tages zurückgeblieben. Es war allein, und sein Tempo ließ mit zunehmender Dunkelheit nach. Es war ein ungewöhnlich klarer Abend. Ein flinker kleiner Mond stieg am östlichen Horizont auf, und das Subjekt sah sich nach einem Schlafplatz um.
Es musste ein paar Minuten suchen, bis es eine sandige Mulde gefunden hatte, die im Windschatten eines Felsvorsprungs lag. Dort rollte es sich in annähernd fötaler Haltung zusammen, sodass seine Bauchregion vor der abkühlenden Luft geschützt war. Sein Körper verfiel in die übliche nächtliche Katatonie.
Als der Mond drei Viertel des Himmels überquert hatte, tauchte eine Anzahl von kleinen insektenartigen Wesen aus einem im Sand versteckten Nest auf. Sie wurden sofort vom Subjekt angezogen, von seinem Geruch vielleicht oder seinem Atemrhythmus. Sie waren kleiner als die nächtlichen Symbionten seiner Heimatstadt. Sie trugen deutlich ausgebildete thorakale Wulste und bewegten sich auf zwei zusätzlichen Beinpaaren. Aber sie nährten sich auf gleiche Weise und ohne zu zögern an den Blutnippeln des Subjekts.
Sie waren noch immer da (gesättigt vielleicht), als das Subjekt im ersten Licht des Morgens erwachte. Einige hingen noch immer an seinem Körper. Vorsichtig, geradezu pingelig, pflückte er sie von sich ab und warf sie von sich. Die Geschöpfe blieben bewegungslos, aber unverletzt liegen, bis die Sonne ihre Körper erwärmte, dann gruben sie sich zurück in den Sand, kopfüber, das hintere Ende wie ein rosa Fächerschwanz emporragend, bevor sie schwungvoll verschwanden.
Das Subjekt folgte weiter der Straße.
Als sie ihren ersten Eintrag noch einmal durchlas, war Marguerite nicht zufrieden mit dem, was sie geschrieben hatte. Nicht weil es unkorrekt gewesen wäre, obwohl es das natürlich in der Tat war — es war ja alles geradezu schreiend falsch. Zuschreibungsfehler, wo man nur hinguckte. Die Sozialwissenschaftler wären entsetzt. Aber sie war der ewigen Objektivität müde. Ihr eigenes Projekt, ihr ganz privates Projekt, sah vor, sich in das Subjekt hineinzuversetzen. Wie sonst verstanden die Menschen sich gegenseitig? »Sieh es mal aus meiner Sicht«, sagte man. Oder: »Wenn ich an deiner Stelle wäre …« Es war ein Akt der Vorstellungskraft, so alltäglich und selbstverständlich, dass man ihn gar nicht mehr wahrnahm. Menschen, die dazu nicht in der Lage waren oder sich weigerten, es zu tun, wurden als Psychotiker oder Soziopathen bezeichnet. Aber wenn wir die Eingeborenen betrachten, dachte Marguerite, sollen wir Indifferenz walten lassen. Eine distanzierte Zurückhaltung, die in ihrer Strenge schon fast puritanisch anmutet. Habe ich mich befleckt, wenn ich eingestehe, dass es mir nicht egal ist, ob das Subjekt überlebt oder stirbt? Die meisten ihrer Kollegen hätten diese Frage bejaht. Marguerite trug sich mit dem ketzerischen Gedanken, dass sie Unrecht haben könnten.
Dennoch fehlte der Erzählung etwas. Es war schwer zu entscheiden, was zu sagen und, das vor allem, wie es zu sagen war. Für wen schrieb sie? Nur für sich oder hatte sie eine Leserschaft im Sinn?
Einige Wochen waren vergangen, seit das Subjekt die Stadt verlassen hatte — zur gleichen Zeit, als Tess sich ihre Hand so schlimm verletzt hatte. Wenn sie in diesem Stil weitermachte, gab es noch sehr viel mehr zu schreiben. Marguerite war allein in ihrem Arbeitszimmer, über ihr Heft gebeugt, doch beim Gedanken an Tess hob sie den Kopf und machte eine Bestandsaufnahme der spätabendlichen Geräusche im Haus.
Chris war unten noch zugange. Chris hatte sich seine eigenen Räume im Haus geschaffen. Er schlief im Keller, war tagsüber meistens abwesend, nahm sein Abendessen bei Sawyer's ein und benutzte die Küche und das Wohnzimmer in der Regel erst, wenn Tessa zu Bett gegangen war. Seine Anwesenheit war unaufdringlich, meistens sogar tröstlich. (Da: das Geräusch der zuklappenden Kühlschranktür, das Klirren von Geschirr.) Chris wirkte immer bekümmert, wenn er arbeitete, wie jemand, der sich verzweifelt bemüht, einen Gedankengang zu rekonstruieren, der ihm entglitten ist. Aber oft hörte er gar nicht mehr auf zu arbeiten, saß dann bis spät in die Nacht.
Und er war eine Hilfe gewesen, was Tess betraf — mehr als nur eine Hilfe. Chris war keiner jener Erwachsenen, die Kinder herablassend behandeln oder sie zu beeindrucken versuchen. Er schien sich wohl zu fühlen im Umgang mit Tess, sprach offen und ohne Hemmungen mit ihr und nahm keinen Anstoß, wenn sie gelegentlich gar nichts sagte oder eingeschnappt war. Und er hatte keinen Wind um Tessas Probleme gemacht.
Sogar Tess wirkte ein bisschen zufriedener, seit Chris im Haus war. Aber der Unfall mit ihrer Hand war beunruhigend gewesen. Tess beharrte zunächst darauf, dass sie sich einfach nur zu doll gegen das Fenster gelehnt habe, aber Marguerite wusste Bescheid: Ein Fenster am Abend in einem Zimmer mit Licht ist so gut wie ein Spiegel. Und es war nicht der erste Spiegel, den Tess zerbrochen hatte. In Crossbank waren es drei gewesen. Der Therapeut hatte von »unausgedrückter Wut« gesprochen, aber Tess hatte Mirror Girl nie als feindselig oder Furcht erregend beschrieben. Sie zerbrach die Spiegel, sagte sie, weil sie es leid war, dass Mirror Girl immer wieder unangekündigt darin auftauchte — »Ich möchte mich sehen, wenn ich in den Spiegel gucke«. Mirror Girl war aufdringlich, kam oft zum unpassenden Zeitpunkt und konnte einen ziemlich verärgern, aber dass sie geradezu ein Albtraum gewesen wäre, konnte man auch nicht sagen. Es war das Blut, das die Sache diesmal so unheimlich gemacht hatte.
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