Selbst die Sonne schien ihr trüber als sonst, bis ihr auffiel, dass ein ungewöhnlich dichter Dunst herrschte, und besonders dicht im Nordosten, fast wie eine heranziehende Unwetterfront. Wahrscheinlich könnte sie die Meteorologie mal dazu befragen. Morgen.
Bevor sie schließlich endgültig zu Bett ging, spähte Marguerite noch einmal in Tessas Zimmer.
Tess schlief fest. Die kaputte Fensterscheibe neben ihrem Bett war noch immer durch Chris' Plastik-und-Furnier-Konstruktion geschützt, sodass das Zimmer behaglich warm war. Dunkelheit draußen und drinnen. Keine Spiegelungen zu befürchten. Nichts zu hören außer Tessas leises Atmen.
Und plötzlich, in der Stille des Hauses, begriff Marguerite, für wen sie ihre Erzählung schrieb. Nicht für sich selbst. Schon gar nicht für andere Wissenschaftler. Und auch nicht für die Öffentlichkeit.
Sie schrieb sie für Tess.
Die Erkenntnis setzte einen Energieschub frei, verjagte die Aussicht auf Schlaf. Sie ging zurück in ihr Büro, machte die Schreibtischlampe an und holte ihr Heft hervor. Sie schlug es auf und schrieb:
Vor mehr als fünfzig Jahren gab es, auf einem Planeten in so großer Entfernung, dass kein lebender Mensch je hoffen darf, dort hinreisen zu können, eine Stadt aus Fels und Sandstein. Die Stadt war ähnlich groß wie die größeren unserer Städte und ihre Türme ragten hoch hinauf in die dünne trockene Luft jener Welt. Die Stadt war auf einer staubigen Ebene erbaut worden, im Angesicht hoher Berge, deren Spitzen sogar während des langen Sommers von Schnee bedeckt waren. Jemand lebte dort, jemand, der nicht ganz ein Mensch war, aber doch auf seine eigene Art eine Persönlichkeit, sehr verschieden von uns, doch in vieler Hinsicht auch ähnlich. Der Name, den wir ihm gaben, lautete »Subjekt« …
Sue Sampel begann wieder Gefallen an den Wochenenden zu finden, trotz der weiter fortdauernden Abriegelung. Eine Zeit lang war es eine Regen-Traufe-Situation gewesen: die Wochentage mit Arbeit gefüllt, aber getrübt durch die seltsamen Anfälle und die allgemeine Unfreundlichkeit ihres Chefs; die Samstage und Sonntage dagegen waren sehr ruhig und melancholisch, weil sie nicht ins Auto springen und nach Crossbank fahren konnte, um sich zu amüsieren. Zuerst hatte sie sich an den Wochenenden mehr oder weniger zugekifft, um sich gegen die innere Unruhe zu wappnen, aber irgendwann waren ihre Vorräte zur Neige gegangen (auch dies ein Artikel, der im Lieferumfang des schwarzen Lasters nicht enthalten war). Dann lieh sie sich eine Handvoll Romane von Tiffany Arias von einer Kollegin in der Plaza aus, fünf dicke Schwarten über eine Kriegskrankenschwester in Shiugang, die zwischen ihrer Liebe zu einem Aufklärerpiloten der Airforce und einer heimlichen Affäre mit einem dem Alkohol verfallenen Waffenschmuggler hin und her gerissen ist. Sue fand die Bücher ganz okay, doch sie waren nur ein unzulänglicher Ersatz für Cannabis der Marke Green Girl Canadian (regelmäßig, aber illegal importiert aus dem Nördlichen Wirtschaftlichen Protektorat), von dem sie noch sieben Gramm in einer Keksdose in ihrer Sockenschublade aufbewahrte.
Dann aber stand plötzlich Sebastian Vogel vor ihrer Tür, mit einem Einquartierungsnachweis von Ari Weingart und einem verbeulten braunen Koffer. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sehr vielversprechend. Ganz niedlich vielleicht, so auf die Weihnachtselfenart, schon auf die sechzig zugehend, ein bisschen übergewichtig, auf dem glänzend kahlen Kopf Reste eines grauen Haarkranzes, ein buschiger rotgrauer Bart. Er war offensichtlich schüchtern — stotterte, als er sich vorstellte —, und, schlimmer noch, Sue gewann den Eindruck, dass er irgendeine Art Geistlicher oder pensionierter Pastor war. Er versprach, er werde »keinerlei Umstände machen«, und sie befürchtete, dass er vermutlich genau das tun würde.
Am Tag darauf hatte sie Ari nach ihm befragt. Ari sagte, Sebastian sei Akademiker im Ruhestand, kein Priester, und derzeit Teil einer Dreiergruppe von Journalisten, die in Blind Lake gestrandet seien. Sebastian habe ein Buch geschrieben mit dem Titel Gott & das Quantenvakuum — Ari lieh ihr ein Exemplar. Das Buch war sehr viel trockener als ein Roman von Tiffany Arias, allerdings auch ein ganzes Stück gehaltvoller.
Dennoch blieb Sebastian Vogel nicht viel mehr als ein stiller Teilhaber im Haushalt, bis zu jenem Abend, als er sie dabei ertappte, wie sie sich auf dem Küchentisch einen Joint drehte.
»Na, so was«, sagte Sebastian von der Tür her.
Es war zu spät, die Keksdose oder das Zigarettenpapier zu verstecken. Schuldbewusst versuchte Sue, einen Witz daraus zu machen. »Ähm«, sagte sie, »möchten Sie einen mitrauchen?«
»O nein, ich möchte nicht …«
»Schon gut, ich verstehe vollkommen …«
»Ich möchte nicht Ihre Gastfreundschaft ausnutzen. Aber ich hätte da noch fünfzehn Gramm in meinem Gepäck, falls Sie Lust haben, mit mir zu teilen.«
Danach wurde es besser.
Er war fünfzehn Jahre älter als Sue und sein Geburtstag war am neunten Januar. Als der näher rückte, teilte sie bereits ihr Bett mit ihm. Sue mochte ihn sehr — und man hatte viel mehr Spaß mit ihm, als sie je vermutet hätte —, aber sie wusste auch, dass das Ganze wahrscheinlich eine »Abriegelungsromanze« war, eine Bezeichnung, die sie in der Betriebs-Cafeteria aufgeschnappt hatte. In der ganzen Stadt schossen Abriegelungsromanzen aus dem Boden. Die Gefühlskombination aus Beengtheit und ständiger Angst erwies sich als echtes Aphrodisiakum.
Sein Geburtstag fiel auf einen Samstag, und Sue plante schon seit Wochen darauf hin. Eigentlich hatte sie ihm einen Geburtstagskuchen besorgen wollen, aber es gab keine Backmischungen im Laden, und aus der hohlen Hand einen Kuchen selber backen zu wollen, kam nicht infrage.
Also war sie auf die zweitbeste Lösung verfallen. Und hatte auf ihren Einfallsreichtum zurückgegriffen.
Sie trug den Kuchen ins Wohnzimmer; eine einzelne Kerze steckte darin. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie.
Es war kein besonderer Kuchen. Aber er hatte symbolischen Wert.
Sebastians kleiner Mund kräuselte sich zu einem nur teilweise vom Schnäuzer verdeckten Lächeln. »Das ist ja zu … zu nett! Sue, ich danke dir!«
»Ach, ist doch nichts weiter«, sagte sie.
»Doch, es ist toll!« Er bewunderte den Kuchen. »Ich hab schon seit Wochen keine solchen Luxusartikel mehr gesehen. Wo hast du ihn her?«
Es war eigentlich gar kein Kuchen. Sondern ein DingDong mit einer Geburtstagskerze darin. »Das willst du doch gar nicht wissen«, sagte Sue.
Für Samstag hatte Sebastian sich bereit erklärt, mit seinen Freunden im Sawyer's zu Mittag zu essen. Er bat Sue, mitzukommen.
Sie war einverstanden, wenn sie auch Zweifel hegte. Sue hatte vor ungefähr zwanzig Jahren einen Bachelor-Abschluss gemacht, aber der hatte ihr nicht mehr eingetragen als diese bessere Büroarbeit in Blind Lake. Sie war aus zu vielen fachlichen Diskussionen ausgeschlossen worden, um Vergnügen an einer einschlägigen Unterhaltung zwischen Wissenschaftsjournalisten finden zu können. Sebastian versicherte ihr, dass es nichts dergleichen werden würde. Seine Freunde seien Schriftsteller, keine Wissenschaftler. »Offen und direkt, aber nicht snobistisch.«
Schon möglich, sagte sie sich, vielleicht aber auch nicht.
Sue fuhr Sebastian, der kein eigenes Auto zur Verfügung hatte, zu Sawyer's, wo sie bei leichtem Schneetreiben parkten. Der Wind war frisch, die Sonne lugte nur hin wieder aus den Wolkenschluchten hervor. Im Restaurant herrschte eine schläfrige Wärme und Feuchtigkeit.
Sebastian machte sie mit Elaine Coster bekannt, einer mageren, säuerlich dreinblickenden Frau, die nicht viel älter war als Sue selbst, sowie mit Chris Carmody, Letzterer erheblich jünger, groß und etwas grimmig, aber auf zerzauste Weise gut aussehend. Chris war freundlich, Elaine hingegen sagte nach einem schlaffen Händedruck: »Na, Sebastian, in Ihnen steckt ja mehr, als wir gedacht hätten.«
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