Charlie Grogan, Chefingenieur in der Eyeball Alley, war ein stattlicher Mann, eher robust als dick, und an der Hand, die er Chris zur Begrüßung entgegenstreckte, war viel Fleisch. Die stark gelichteten Haare waren ergraut. Er wirkte selbstbewusst, aber nicht aggressiv.
»Ehrlich gesagt, ja«, sagte Chris. »Ich bin tatsächlich zu Fuß gegangen.«
»Kein Auto?«
Kein Auto, und er war ohne Winterkleidung nach Blind Lake gekommen. Selbst diese ungefütterte Jacke war nur geliehen. Ständig fiel einem der Schnee oben in den Kragen.
»Wenn man in einem Gebäude ohne Fenster arbeitet«, sagte Grogan, »gewöhnt man sich dran, Hinweise auf das Wetter draußen zu sammeln. Einen Schneesturm haben wir aber noch nicht, oder?«
»Es kommt ganz schön was runter.«
»Aha. Na ja, wissen Sie, im Dezember, da muss man mit ein bisschen Schnee rechnen in dieser Gegend. Haben noch Glück gehabt, dass wir zu Thanksgiving nicht mehr als ein paar Zentimeter hatten. Hängen Sie Ihren Mantel dorthin. Und ziehen Sie bitte auch die Schuhe aus. Wir haben da diese kleinen Gummislipper, nehmen Sie sich ein Paar aus dem Regal. Das Ding, das Sie da tragen, ist das ein Diktiergerät?«
»Ja.«
»Dann hat das Interview also schon begonnen?«
»Es sei denn, Sie sagen mir, dass ich es ausschalten soll.«
»Nein, ich schätze, deswegen sind wir ja zusammengekommen. Ich hatte befürchtet, Sie würden über die Quarantäne sprechen wollen — darüber weiß ich auch nicht mehr als alle anderen. Aber Ari Weingart meinte, dass Sie an einem Buch arbeiten.«
»An einem längeren Zeitschriftenartikel. Vielleicht wird ein Buch daraus. Kommt drauf an.«
»Darauf, ob wir je wieder nach draußen dürfen?«
»Einmal das, und außerdem darauf, ob es dann noch eine Leserschaft dafür gibt.«
»Es ist, als würde man Wir-tun-so-als-ob spielen, nicht wahr? Wir tun so, als würden wir immer noch in einer normalen Welt leben. Tun so, als hätten wir eine nützliche Arbeit zu erledigen.«
»Betrachten wir es als einen Vertrauensvorschuss.«
»Was ich machen kann — das wäre dann wohl mein Vertrauensvorschuss —, ist, Sie durch die Alley zu führen und über ihre Geschichte zu sprechen. Entspricht das Ihrer Vorstellung?«
»Das ist genau das, was ich wollte, Mr. Grogan.«
»Sagen Sie ruhig Charlie. Sie haben bereits ein Buch geschrieben, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Ja, hab ich davon gehört. Ein Buch über Ted Galliano, diesen Biologen. Manche Leute sagen, es wäre Rufmord gewesen.«
»Haben Sie es gelesen?«
»Nein — und nichts für ungut —, ich möchte es auch nicht lesen. Ich bin Galliano mal auf einer Konferenz über Bioquantenberechnung vorgestellt worden. Er war vielleicht ein Genie in Sachen Virostatika, aber er war auch ein Arschloch. Wenn Leute berühmt werden, dann baden sie manchmal gern in diesem Ruhm. Er war nicht glücklich, wenn er nicht mit Medienleuten oder Großinvestoren sprechen konnte.«
»Ich glaube, er hatte das Bedürfnis, sich als Held zu fühlen, ob verdient oder nicht. Aber ich bin nicht hergekommen, um über Galliano zu reden.«
»Ich wollte nur klarstellen, dass ich Ihnen Ihr Buch nicht zur Last lege. Wenn Galliano beschlossen hat, mit seinem Motorrad über die Klippe zu fahren, dann war das sicherlich nicht Ihre Schuld.«
»Danke. Wie steht's denn jetzt mit der Führung?«
Die Eyeball Alley war eine Kopie der Anlage in Crossbank, die Chris ebenfalls besucht hatte. Strukturell waren sie jedenfalls identisch. Die Unterschiede lagen in den Details: Namen an den Türen, Farbe der Wände. Zuletzt waren ein paar halbherzige Versuche gemacht worden, der Jahreszeit entsprechende Dekorationselemente einzuführen: eine Girlande aus grünem und rotem Krepp über dem Eingang zur Cafeteria, einen Papierkranz und eine Menora in der Bibliothek.
Charlie Grogan trug eine Brille, die ihm Dinge zeigte, welche Chris nicht sehen konnte, kleine lokale Datenquellen, die ihm mitteilten, wer gerade in welchem Büro war, und als sie an einer Tür mit der Aufschrift ENDOSTATIK vorbeikamen, führte Charlie eine kurze Unterhaltung (über Kehlkopfmikrofon) mit der Person, die sich drinnen befand. »Hallo Ellie … immer beschäftigt … nee, Boomer geht's gut, danke der Nachfrage …«
»Boomer?«, fragte Chris.
»Mein Jagdhund«, sagte Charlie. »Ist schon etwas betagt.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl mehrere Stockwerke nach unten, tief hinein in die kontrollierte Umgebung des Anlagenkerns. »Wir stecken Sie in einen Anzug und gehen dann ins Magazin«, sagte Charlie, aber als sie sich einer breiten Tür mit der Aufschrift STERILE KLEIDUNG näherten, blinkte dort ein rotes Licht. »Außerplanmäßige Wartungsarbeiten«, erläuterte Charlie. »Keine Touristen. Wären Sie bereit, eine Stunde oder so zu warten?«
»Wenn wir uns so lange unterhalten können.«
Chris folgte dem Chefingenieur zurück in die Cafeteria. Charlie hatte noch nicht zu Mittag gegessen, genauso wenig wie Chris übrigens. Das Essen auf den Warmhalteplatten war das Gleiche, das auch im Gemeindezentrum angeboten wurde, vorgefertigtes Reispilaf, Hühnchencurry und eingewickelte Sandwiches, Woche für Woche angeliefert von immer demselben schwarzen Laster. Der Ingenieur schnappte sich ein Roggensandwich mit Schinken; Chris, der nach dem Fußmarsch zur Alley immer noch ein bisschen fror, gab dem heißen Essen den Vorzug. Die Luft in der Cafeteria war angenehm feuchtwarm, der Geruch aus der Küche intensiv und beruhigend.
»Ich bin schon ziemlich lange dabei in diesem Geschäft«, sagte Charlie. »Nicht, dass es irgendwelche Anfänger gäbe am Lake, abgesehen von den Examensstudenten, die wir hier immer wieder haben. Hat Ari Ihnen erzählt, dass ich am Berkeley Lab bei Dr. Gupta war?«
Tommy Gupta hatte Pionierarbeit im Bereich sich selbst entwickelnder neuronaler Netze und Quantenschnittstellen geleistet. »Sie müssen damals selbst noch Student gewesen sein.«
»Jawoll. Und danke, dass Sie's gemerkt haben. Das war zu der Zeit, als wir Butov-Chips als Logikelemente verwendet haben. Interessante Zeit, wenn auch keiner sich vorstellen konnte, wie interessant es noch werden würde.«
»Die astronomische Anwendung«, sagte Chris, »waren Sie da auch noch dabei?«
»Ein kleines bisschen. Aber das kam natürlich alles ganz unerwartet.«
Eigentlich benötigte Chris diese Rückschau nicht. Die Geschichte war bekannt, und jeder Journalist, der im Bereich von allgemeiner Astronomie und Populärwissenschaften arbeitete, hatte sie in den letzten Jahren in dieser oder jener Version bereits erzählt. Im Grunde, dachte er, war es nur das letzte Kapitel im ewigen Streben der Menschheit, das Unsichtbare zu sehen, ausgeschmückt mit der Technologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Begonnen hatte es, als die erste Generation der von der NASA ins All geschickten Beobachtungsstationen, die sogenannten Terrestrischen Planetenfinder, drei vermutlich erdähnliche Planeten entdeckten, die um nahe sonnenähnliche Sterne kreisten. Die TPFs wurden von den hochauflösenden Interferometern beerbt und diese wiederum von dem größten aller Projekte um optische Interferometer, dem Galileo-Array, sechs kleinen, aber komplexen automatisierten Raumschiffen, die alle außerhalb der Umlaufbahn des Jupiters operierten, miteinander vernetzt, um ein virtuelles Teleskop mit einer ungeheuren Auflösung zu bilden. Das Galileo-Array, so wurde seinerzeit gesagt, könne die Umrisse der Kontinente auf Welten nachzeichnen, die hunderte von Lichtjahren entfernt sind.
Und es hatte funktioniert. Für eine Weile. Dann begann die Telemetrie aus dem Array sich zu verschlechtern.
Das Signal wurde über Monate hin langsam, aber unaufhaltsam schwächer. Nach intensiven Nachforschungen lokalisierte die NASA als Ursache des Versagens einige wenige Zeilen fehlerhaften Codes, die jedoch so tief ins Bordgefüge der Galileo-Raumschiffe eingebettet waren, dass sie nicht überschrieben werden konnten. Dies war ein Risiko, mit dem die NASA von Beginn an hatte leben müssen. Das Array war sowohl hochkomplex als auch vollkommen unzugänglich. Es konnte nicht vor Ort repariert werden. Ein epochaler Triumph der Technik stand im Begriff, zu einem irrsinnig teuren Witz zu werden.
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