Die Menschenmenge war beträchtlich angewachsen. Kurz bevor Courtney einschlief, waren ein paar Fahrzeuge der internen Sicherheitskräfte mit Sirenengeheul eingetroffen. Jetzt drängten Männer in Uniformen, die irgendwie nach Karneval aussahen, die Leute zurück. Courtney rührte sich nicht und Bob ließ sich tief in den Fahrersitz sinken, sodass das Auto inmitten all des Auftriebs und der Dunkelheit für leer gelten konnte, vom Besitzer abgestellt und zurückgelassen. Im Handumdrehen, bemerkte Bob zu seiner Genugtuung, befand sich die Menge weitgehend hinter ihm.
Und das Tor begann sich zu öffnen. Auf ein Signal aus dem Laster hin, vermutete er. Aber es war ein wunderbarer Anblick. Die drei Meter hohe massive Barriere schwang mit geölter Leichtigkeit nach außen, so glatt und geschmeidig, dass es wie ein digital bearbeiteter Film aussah. Jackpot, dachte Bob. »Leg den Gurt an«, sagte er zu Courtney.
Ihre Augen öffneten sich blinzelnd. »Was?« Er schätzte die Breite der Öffnung ab, die vor ihm lag. »Nichts.« Er ließ den Motor an und stieg aufs Gaspedal.
Pocketdrohnen, erläuterte Elaine, waren selbstlenkende fliegende Waffen etwa von der Größe einer floridianischen Grapefruit. Sie hatte sie während der türkischen Krise in Gebrauch gesehen, wo ihre Funktion darin bestanden hatte, Sperrgebiete und umkämpfte Grenzen zu patrouillieren. Aber noch nie hatte sie davon gehört, dass sie außerhalb von Kampfgebieten eingesetzt wurden.
»Sie sind primitiv und ziemlich dumm«, erklärte sie Chris, »aber billig, man kann ganz viele davon verwenden, und sie stecken nicht ewig in der Erde wie Landminen, die Kindern die Beine abreißen.«
»Was machen sie denn?«
»Hauptsächlich liegen sie einfach da, sparen Energie. Sie reagieren auf Bewegung, sehr empfindlich, und sie haben ein paar logische Muster installiert bekommen, um plausible Ziele zu identifizieren. Wenn Sie in ein Sperrgebiet spazieren, fliegen sie auf wie Heuschrecken, nehmen Sie aufs Korn und spucken kleine, aber tödliche Explosivmunition aus.«
Chris blickte in die Richtung, in die Elaine gezeigt hatte, aber in der zunehmenden Dunkelheit konnte er nichts Verdächtiges ausmachen. Man musste schon gut aufpassen, um sie zu bemerken, sagte Elaine. Sie waren getarnt, und wenn sie loshüpften, ohne ein zulässiges Ziel zu finden — irritiert zum Beispiel von den Vibrationen dieses riesigen automatisierten Lasters auf dem Asphalt —, gingen sie schnell wieder in den Ruhezustand über.
Chris dachte darüber nach, während der Laster sich näherte und die immer nervöser werdenden Sicherheitsleute die Gaffer noch weiter von der Straße wegscheuchten. Es ergab keinen Sinn, war er der Ansicht. Der innerste Zaun um Blind Lake war nur eine von Dutzenden von bereits ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen. Welche Bedrohung konnte derart schwerwiegend sein, dass dagegen Kriegsgeschütze in Stellung gebracht werden mussten?
Es sei denn, dass es darum ging, die Leute nicht heraus zulassen. Aber das ergab auch keinen Sinn. Was nicht bedeuten musste, dass die Pocketdrohnen nicht installiert worden waren. Sondern nur, dass er sich nicht denken konnte, warum.
Die Menge wurde ruhiger, als die Dunkelheit einsetzte und der Laster in den Bereich des Tores vorkroch, um dann einen Moment im Leerlauf zu verharren. Einige wenige begannen sich zu entfernen, offenbar konnte ihre Neugier sich nicht mehr gegen das Unbehagen und die Kälte durchsetzen. Aber viele blieben, gegen die Seile gedrückt, die die Sicherheitsleute gespannt hatten. Der immer schneidender werdende Wind schien ihnen ebenso wenig auszumachen wie die reichlich verfrühten Schneeflocken, die durch die Scheinwerferkegel des Lasters tanzten. Aber sie hielten die Luft an und wichen ein, zwei Schritte zurück, als das Tor lautlos aufzugehen begann.
Chris drehte sich zu Elaine um und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Stadt, die im Dunst des Schneeschauers aufzuleuchten begann, die konzentrischen Blöcke des Hubble Plaza, die blinkenden Navigationslichter auf den Türmen der Eyeball Alley, das wärmere Licht der sauber und logisch aufgereihten Wohnhäuser.
Er wandte sich zurück, als plötzlich das Geräusch eines elektrischen Motors ertönte, viel näher als das Leerlaufgrollen des Lasters.
»Video«, blaffte Elaine. »Chris!«
Er fummelte hektisch an seinem kleinen Personal-Server herum. Seine Finger waren kalt und die Bedienungselemente hatten die Größe eines Fliegenschisses. Bisher hatte er das Ding im Grunde nur zum Diktieren verwendet. Schließlich gelang es ihm aber, die Funktion RECORD VID auszulösen und das Gerät ungefähr in Richtung Tor zu halten.
Ein Auto schoss von irgendeinem Punkt beim Wachhäuschen her auf die Fahrbahn. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, die Insassen unsichtbar. Aber die Absicht war deutlich. Das Fahrzeug brauste auf das halb offene Tor zu.
»Da will jemand nach Hause und den Hund füttern«, sagte Elaine und dann weiteten sich ihre Augen. »O mein Gott, das ist übel.«
Die Drohnen, dachte Chris.
Es schien zunächst, als würde das Auto vielleicht nicht an dem Wachhäuschen vorbeikommen, aber der Fahrer hatte die sich auftuende Lücke recht gut abgeschätzt. Der Wagen — Chris hielt ihn für ein spätes Ford-Modell oder einen Tesla — zwängte sich millimetergenau hindurch und schwenkte dann abrupt nach links, um dem Kühlergrill des Roboterlasters auszuweichen. Die Scheinwerfer gingen an, als das Auto auf die Fahrbahn hoppelte und richtig Geschwindigkeit aufzunehmen begann.
»Haben Sie das im Kasten?«, wollte Elaine wissen.
»Ja.« Das hoffte er jedenfalls. Es war zu spät, um es zu überprüfen. Zu spät, um wegzusehen.
»Geschafft!«, grölte Bob Krafft, als seine hintere Stoßstange an dem massigen schwarzen Laster vorbeischrammte. Obwohl es natürlich gar nicht stimmte. Wahrscheinlich würden sie von einem Militärfahrzeug angehalten werden, mussten vielleicht sogar damit rechnen, die ganze Nacht über belehrt, bedroht und der Verletzung von kleingedruckten Bestimmungen beschuldigt zu werden, aber er war kein Soldat und er hatte sich auch nie verpflichtet, eine gottverschissene Ewigkeit in Blind Lake herumzuhängen. Das offene Land, das sich vor seinen Scheinwerfern ausbreitete, war in jedem Fall ein erfreulicher Anblick. »Geschafft«, sagte er noch einmal, hauptsächlich, um das Geräusch von Courtneys japsenden Angstlauten zu übertönen.
Sie schnappte grad genug Luft, um ihm mitteilen zu können, dass er ein Arschloch sei. Er sagte: »Immerhin sind wir draußen, oder?«
»Jesses, ja, aber …«
Draußen neben dem Seitenfenster war etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch Bob bemerkte es. Irgendetwas Kleines, das aus dem hohen Gras hüpfte.
Wahrscheinlich ein Vogel, dachte er, aber plötzlich war kalte Luft im Auto und harte kleine Schneeflocken, und es schien, als würde Courtney bluten: Er sah Blut auf dem Armaturenbrett, lauter Blut auf seiner guten Lederjacke …
»Court?«, sagte er. Seine Stimme klang ganz seltsam, wie unter Wasser.
Sein Fuß trat auf die Bremse, aber die Straße war glatt und der Tesla begann trotz allen Einsatzes der noch kürzlich überholten Servos zu schleudern. Aus irgendeinem Grund explodierte der Motor, stieß blaue Flammen aus. Der Wagen hob von der Straße ab. Bob wurde gegen seinen Sitz gedrückt, er sah den Asphalt, das hohe Gras und den dunklen Himmel um sich herumwirbeln, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er: Na so was, wir fliegen! Dann setzte das Auto auf seinem vorderen rechten Kotflügel auf und er wurde gegen Courtney geschleudert. Gegen das klebrige Etwas, das von Courtney noch übrig war: rot von oben bis unten und von kleinen Flammen überzogen.
»Was zur Hölle?«, fragte Ray Scutter, als er den Feuerball sah. Dimitrij Schulgin, Chef der Zivilsicherheit, konnte nur irgendetwas von »Geschützen« murmeln. Geschütze! Ray versuchte zu erfassen, was das bedeutete. Ein Auto war ausgebrochen, hatte Feuer gefangen und sich überschlagen. Auf dem Dach gelandet, blieb es liegen. Dann war alles still. Selbst die Menge am Tor gab vorübergehend keinen Laut von sich. Es war wie eine Fotografie, ein eingefrorenes Bild. Die Zeit war angehalten. Er blinzelte. Harte Schneeflocken bliesen ihm scharf ins Gesicht.
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