Weingart nickte und begann seine Liste zu verlesen. »Vorräte. Die Versorgung mit Trinkwasser ist nicht unterbrochen, die Leitungen sind also offen, aber ohne Hilfe von draußen werden uns die Nahrungsmittel noch vor Ende der Woche knapp und spätestens Ende November würden wir es mit einer Hungersnot zu tun haben. Ich gehe davon aus, dass wir neue Vorräte bekommen, aber es könnte sinnvoll sein, unsere Überschüsse gesondert zu lagern und eventuell sogar erst einmal Wachen aufzustellen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese … Belagerung … noch bis Thanksgiving weitergeht.«
»Tja, aber wir unterhalten uns hier über ›Was wäre wenn‹ …«
»Ja, ja, ist richtig. Was sonst noch?«
»Medizinische Versorgung, die gleiche Geschichte, und die Ambulanz vor Ort ist nicht auf ernsthafte Krankheiten oder auf Verletzungen eingerichtet. Falls es ein Feuer gäbe, müssten wir Tote in Kauf nehmen, weil wir außerstande sind, eventuelle Brandopfer in ein größeres Krankenhaus zu transportieren. Auch in diesem Punkt können wir nicht viel machen, außer das medizinische Personal zu bitten, Notfallpläne zu erstellen. Außerdem, falls die Quarantäne weiter andauert, werden wir psychologische Betreuung brauchen. Wir haben bereits einige Leute, bei denen es draußen dringende Familienangelegenheiten gibt.«
»Die werden's überleben.«
»Unterbringung. Ein paar hundert Tagesarbeiter übernachten derzeit in der Sporthalle, nicht zu reden von einigen Journalisten, die zu Besuch sind, einer Handvoll von Auftragnehmern und wer sonst noch zufällig gerade mit einer Tagesgenehmigung da war. Langfristig, falls dies wirklich eine langfristige Quarantäne ist, sollten wir vielleicht zusehen, ob wir diese Leute nicht irgendwo einquartieren können. Es gibt unter den Bewohnern hier einige, die Gästezimmer zur Verfügung haben, und es wäre bestimmt nicht schwer, Freiwillige zusammenzutrommeln. Mit ein bisschen Glück können wir für jeden ein Bett oder wenigstens eine Schlafcouch organisieren. Badbenutzung statt Kampf um die Duschen im Gemeindezentrum und Schlangestehen vor den Klos.«
»Kümmern Sie sich drum«, sagte Ray. Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Stellen Sie eine Liste von Freiwilligen zusammen, aber bringen Sie sie mir, bevor Sie mit den Leuten reden. Und wir müssen dazu ein Verzeichnis der Tagesarbeiter und der Gäste erstellen.«
Es gab noch mehr — tendenziell nebensächliche Details, die meistenteils leicht delegiert werden konnten, alles unter der Voraussetzung einer länger währenden Abriegelung, woran Ray jedoch nicht ernsthaft glauben mochte. Ein ganzer Monat so wie jetzt? Drei Monate? Es war unvorstellbar. Seine Gewissheit wurde lediglich von der unangenehmen Tatsache beeinträchtigt, dass die Abriegelung bereits jetzt unnachvollziehbar lange andauerte.
Sue Sampel klopfte an die Tür, als Weingart zur Zusammenfassung ansetzte. »Wir sind noch nicht fertig«, rief Ray.
Sie steckte den Kopf durch die Tür. »Ich weiß, aber …«
»Falls Schulgin schon da ist, er soll noch ein paar Minuten warten.«
»Er ist nicht da, sondern hat angerufen, um abzusagen. Er ist unterwegs zum Südtor.«
»Zum Südtor? Was ist denn so verdammt wichtig am Südtor?«
Sie lächelte aufreizend. »Er sagte, Sie würden es verstehen, wenn Sie aus dem Fenster guckten.«
Das gewaltige achtzehnrädrige Fahrzeug — pechschwarz und schwer gepanzert — kroch auf Blind Lake zu wie eine überdimensionierte Kellerassel, scheu und zögerlich trotz aller Schutzschichten. Wo normalerweise die Fahrerkabine ist, befand sich nur ein stumpfer, mit Sensoren ausgestatteter Kegel. Der Transporter las die Straße, lokalisierte seine Position mithilfe von in der Erde vergrabenen Transpondern und GPS-Signalen. Einen menschlichen Fahrer gab es nicht. Der Lastwagen fuhr sich selbst.
Als Chris und Elaine sich dem Südtor näherten, war die Straße bereits von dienstfreien Tagesarbeitern und Bürokräften sowie einer Horde Schulkindern belagert. Zwei Fahrzeuge der Zivilen Sicherheit kamen herangefahren, ein Dutzend Männer in grauen Uniformen sprang heraus und begann die Menschenmenge auf einen Abstand zurückzudirigieren, den sie für sicher erachteten.
Der Zaun um Blind Lakes innerste Umgrenzungslinie war eine »Zurückhalteeinrichtung« auf dem neuesten Stand der Technik, wie Elaine mitzuteilen wusste. Die tief in die Erde eingelassenen Pfosten waren aus einer verstärkten Metalllegierung, die Verbindungsglieder aus einem Kohlenstoffgemisch, das stabiler als Stahl war, an der Oberfläche glatter als Teflon und mit Sensoren versehen; über allem erhob sich eine um neunzig Grad geneigte Doppelreihe Bandstacheldraht. Und das ganze Ding ließ sich mit einer tödlichen elektrischen Spannung laden.
Das die Straße versperrende Tor schwang auf einem Scharnier auf, sofern es ein entsprechendes Signal vom Wachhäuschen oder einem codierten Transponder erhielt. Das Wachhäuschen selbst war ein Betonbunker mit schlitzartigen Fenstern, stabil wie ein Fels, aber derzeit unbemannt: Mit Beginn der Abriegelung war die Wache abgezogen worden.
Chris schlängelte sich durch die Menge nach vorn, Elaine folgte ihm, indem sie sich an seiner Schulter festhielt. Schließlich gelangten sie bis zu den Straßenbarrieren, die ihnen von den Sicherheitsleuten in den Weg gewuchtet wurden. Elaine deutete auf ein gerade eintreffendes Auto. »Ist das nicht Ari Weingart? Und ich glaube, der andere Typ, der bei ihm ist, das ist Raymond Scutter.«
Chris sah sich das Gesicht genauer an. Ray Scutter war ein interessanter Fall. Vor fünfzehn Jahren war er als Kritiker der Astrobiologie, der »Wissenschaft des Wunschdenkens«, bekannt geworden. Die marsianische Enttäuschung hatte Rays Standpunkt eine Menge Glaubwürdigkeit verliehen, jedenfalls solange, bis die Suche nach erdähnlichen Planeten interessante Resultate zu liefern begannen. Die in Crossbank und Blind Lake erzielten Durchbrüche ließen seinen Pessimismus als kurzsichtig und kleinlich erscheinen, aber Ray Scutter hatte diese Wende durch geschicktes Zurückrudern überlebt und dadurch, dass er fortan die Begeisterung eines Konvertiten an den Tag legte. Die wirklich fundierten Beiträge, die er in der ersten Welle geologischer und atmosphärischer Studien geleistet hatte, hatten nicht nur seine Karriere gerettet, sondern ihm sogar den Weg freigemacht, in der Bürokratie aufzusteigen und sich wichtige administrative Positionen zuerst in Crossbank und jetzt in Blind Lake zu sichern. Ray Scutter wäre ein interessantes Thema für eine Reportage, dachte Chris, aber es hieß, er sei ein unzugänglicher Typ, und seine öffentlichen Verlautbarungen waren von einer so zuverlässigen Banalität, dass auch bessere Journalisten als Chris ihn längst als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatten.
Momentan schien er stinksauer zu sein und stritt sich offenbar mit dem Sicherheitschef. Chris konnte den Wortwechsel nicht verstehen, aber er betätigte den Zoom seines Pocketrekorders und dokumentierte den Vorgang auf ein paar Sekunden Video. Nur einige wenige allerdings. Den größeren Teil des Speichers wollte er für die offenbar unvermeidliche Kollision des Roboterlasters mit dem Tor aufsparen.
Der Schwertransporter war nur noch wenige hundert Meter vom Wachhäuschen entfernt. Er sah gewaltig aus — nicht aufzuhalten.
Elaine beschirmte ihre Augen und spähte aufmerksam, dem Verlauf des Zauns folgend, nach draußen. Die untergehende Sonne war unter einer Wolkendecke hervorgekrochen und goss ein streifendes Licht über die Prärie. Sie legte den Mund an Chris' Ohr: »Habe ich Halluzinationen oder sind das Pocketdrohnen da draußen?«
Erschrocken folgte Chris ihrem Blick.
Bob Krafft, ein Unternehmer, der mit einem Team von Ingenieuren nach Blind Lake gekommen war, um das hoch gelegene Gelände östlich der Alley für eine geplante neue Bebauung zu vermessen, hatte den Laster kurz nach Mittag entdeckt, als er noch nicht mehr als ein erbsengroßer Punkt am weiten südlichen Horizont gewesen war.
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