»Pech für Sie«, sagte Charlie. »Oder schlechtes Timing.«
Chris betrachtete den Schneevorhang hinter dem Beifahrerfenster, den Schnee, der sich auf den offenen Flächen des Autos absetzte oder sich hinter den Spiegeln fing. »Oder ich war einfach schlecht beraten. Gegen eine der größten Windmühlen auf dem Planeten anzukämpfen. Ich hatte naive Vorstellungen darüber, wie so etwas funktioniert.«
»Hmm.« Charlie schwieg eine Weile. »Diesmal haben Sie aber was Gutes zu fassen. Die Story über die Quarantäne von Blind Lake, aus der Innenperspektive erzählt.«
»Vorausgesetzt, dass irgendeiner von uns je Gelegenheit haben wird, sie zu erzählen.«
»Soll ich Sie vor dem Gemeindezentrum absetzen?«
»Falls es kein zu großer Umweg für Sie ist.«
»Ich hab's nicht eilig. Obwohl Boomer inzwischen wahrscheinlich Hunger hat. Ich dachte, dass man euch gestrandete Tagesgäste alle bei Einheimischen unterbringen wollte.«
»Ich bin auf der Warteliste. Und morgen habe ich tatsächlich einen Vorstellungstermin.«
»Zu wem sollen Sie geschickt werden?«
»Zu einer gewissen Dr. Hauser.«
»Marguerite Hauser?« Charlie lächelte undurchsichtig. »Wollen wohl alle Parias zusammenstecken.«
»Parias?«
»Ach nee, vergessen Sie's. Ich sollte nicht über Plaza-Politik reden. He, Chris, wissen Sie, was das Gute an Boomer ist, meinem Hund?«
»Was denn?«
»Er hat keine Ahnung von der Quarantäne. Er weiß nichts davon und es kümmert ihn nicht, solange er nur regelmäßig sein Fressen kriegt.«
Glücklicher Boomer, dachte Chris.
Tessa erwachte um sieben Uhr, ihre übliche Zeit unter der Woche, doch noch bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass heute keine Schule sein würde.
Es hatte gestern den ganzen Tag geschneit, und als sie zu Bett ging, war immer noch Schnee gefallen. Und jetzt, heute Morgen, brauchte sie nicht einmal den spitzenbesetzten Vorhang zurückzuziehen, der ihr Fenster bedeckte, denn sie konnte den Schnee hören. Hören, wie er gegen das Glas rieselte, ein Geräusch so sanft und leise wie Mäusegeflüster, und sie konnte auch die Stille hören, die es umgab. Keine über die Auffahrten scharrenden Schaufeln, keine Autos mit knirschenden Reifen, nur ein über allem liegendes weißes Nichts. Mit anderen Worten, richtig viel Schnee.
Sie hörte ihre Mutter unten in der Küche hantieren und dabei vor sich hinsummen. Also auch dort keine Eile, keine Dringlichkeit. Wenn Tess jetzt wieder einschlief, würde ihre Mutter sie wahrscheinlich einfach im Bett bleiben lassen. Es war wie Wochenende, dachte Tess. Kein ruckartiges Erwachen, sondern man konnte die Welt langsam einsickern lassen. Langsam, bedächtig öffnete sie die Augen. Das Tageslicht in ihrem Zimmer war trüb und fast flüssig.
Sie setzte sich auf, gähnte, zupfte ihr Nachthemd zurecht. Der Teppich war kalt unter den nackten Füßen. Sie schob sich am Bett entlang zum Fenster und zog den Vorhang zurück.
Die Fensterscheibe war vollkommen weiß, eine undurchsichtige weiße Fläche. Schnee türmte sich eindrucksvoll auf dem äußeren Sims und innen hatte die kondensierte Feuchtigkeit frostige Filigranmuster gebildet. Tess streckte sofort die Hand aus, berührte das eisige Fenster jedoch nicht, sondern fühlte die Kälte aus einigen Zentimetern Abstand. Es war fast, als würde das Fenster die Kälte ins Zimmer atmen. Sie achtete sorgsam darauf, die zarten Eislinien nicht zu beschädigen, die zweidimensionalen Schneeflockenmuster, die wie die Straßenkarte einer elfenhaften Stadt anmuteten. Das Eis war auf der Innenseite des Fensters, nicht außen. Der Winter hatte richtiggehend durchs Glas gegriffen, dachte Tess. Der Winter hatte seine Hand in ihr Zimmer gesteckt.
Lange starrte sie auf die Eismuster. Sie waren wie geschriebene Worte, die ihre Bedeutung nicht preisgeben wollten. Vergangene Woche hatte Mr. Fleischer im Unterricht über Symmetrie gesprochen. Er hatte von Spiegeln und Schneeflocken erzählt. Er hatte der Klasse gezeigt, wie man ein Blatt Papier falten und mit einer Schere Muster in die Falte schneiden konnte. Wenn man dann das Papier wieder auseinanderzog, sahen die aufs Geratewohl gesetzten Schnitte plötzlich wunderschön aus. Waren zu geheimnisvollen Masken und Schmetterlingen geworden. Das Gleiche konnte man auch mit Farbe machen. Einen Klecks auf das Papier setzen und es dann, solange die Farbe noch nass war, in der Mitte falten. Wieder aufklappen und die Kleckse hatten sich in Augen, Motten, Gewölbe oder gezackte Regenbogen verwandelt.
Die Frostmuster auf dem Fenster waren eher wie Schneeflocken, so als hätte man das Papier nicht einmal gefaltet, sondern zweimal, dreimal, vier … aber niemand hatte das Glas gefaltet. Woher wusste das Eis, welche Muster es machen sollte? Hatte es eingebaute Spiegel innen drin?
»Tess?«
Ihre Mutter stand an der Tür.
»Tess, es ist schon nach neun. Heute ist keine Schule, aber willst du nicht aufstehen?«
Nach neun? Tess blickte auf ihren Nachttischwecker. Tatsächlich, neun Uhr acht. Aber war es nicht gerade eben erst sieben gewesen? Kurz entschlossen streckte sie die Hand vor und hinterließ einen schmelzenden Abdruck auf der Fensterscheibe. »Ich komme!« Ihre Hand war augenblicklich kalt geworden.
»Was möchtest du essen?«
»Frühstücksflocken!« Fast hätte sie Schneeflocken gesagt.
Beim Frühstück erinnerte die Mutter Tessa daran, dass sie heute einen Übernachtungsgast erwarteten — »Vorausgesetzt, die Straßen sind bis Mittag geräumt.« Dies fand Tessa ungeheuer interessant. Tessas Mutter arbeitete heute zu Hause, wodurch alles noch mehr wie Wochenende war, abgesehen eben von der Möglichkeit, dass diese neue Person ins Haus kam. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass einige der Besucher und der nicht hier wohnenden Angestellten noch immer in der Sporthalle des Gemeindezentrums übernachteten, was nicht sehr bequem war, und dass die Leute, die in ihren Häusern ein Zimmer frei hatten, gebeten worden seien, dieses zur Verfügung zu stellen. Tessas Mutter hatte ihre Fitnessgeräte, einen Crosstrainer und ein Ergometerfahrrad, aus dem kleinen, mit Teppich ausgelegten Zimmer im Keller, gleich neben dem Wasserkessel, geräumt. Jetzt stand ein Klappbett darin. Tess fragte sich, wie es wohl sein würde, einen Fremden im Keller zu haben. Einen Fremden, der beim Essen mit am Tisch saß.
Nach dem Frühstück ging Tessas Mutter nach oben in ihr Arbeitszimmer. »Komm und sag Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte sie, doch Tatsache war, dass Tess in den letzten Tagen weniger von ihrer Mutter gesehen hatte als üblich. Irgendetwas passierte gerade bei ihrer Arbeit, es hatte etwas mit dem Subjekt zu tun. Das Subjekt verhielt sich seltsam. Einige Leute meinten, das Subjekt sei vielleicht krank. Dieses Problem nahm ihre Mutter vollauf in Anspruch.
Nach wie vor im Nachthemd, blieb Tess noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen und las. Das Buch hieß Aus dem Sternenhimmel. Es war ein Kinderbuch über die Sterne, darüber, wie sie sich gebildet hatten, wie aus alten Sternen neue entstanden, wie Planeten und Menschen aus ihrem Staub herauskondensierten. Als ihre Augen müde wurden, legte sie das Buch weg und sah zu, wie der Schnee sich an der Glasschiebetür auftürmte. Die Mittagszeit kroch heran, aber der Himmel war noch immer dunkel und verschleiert. Sie hätte sich ein Sandwich zum Lunch machen können, aber sie befand, dass sie keinen Hunger hatte. Sie ging nach oben, zog sich an und klopfte an die Tür ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie für eine Weile nach draußen gehen wolle.
»Dein Hemd ist schief geknöpft.« Ihre Mutter kam in den Flur und machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Schließlich zerzauste sie Tessa ein bisschen die Haare. »Geh nicht zu weit weg.«
»Ist gut.«
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