»Feinde?«
»Nicht direkt Feinde. Sie ist einfach ein Neuankömmling und immer noch eine Art Außenseiterin. Der große Knackpunkt bei ihr ist …«
»Ihr Exmann.«
»Genau. Ray Scutter. Wenn ich recht sehe, hat es da eine ziemlich erbitterte Scheidung gegeben. Scutter redet schlecht über sie. Er meint, sie hätte nicht die Qualifikation, eine Kommission zu leiten.«
»Glauben Sie, dass er recht hat?«
»Kann ich nicht beurteilen, aber ihr beruflicher Werdegang ist makellos. Sie war nie die große Überfliegerin wie Ray und sie hat nicht die gleichen akademischen Zeugnisse, aber sie hat auch noch nie so spektakulär danebengelegen wie Ray. Kennen Sie die Diskussion über kulturelle Intelligibilität?«
»Einige Leute glauben, dass wir die Hummer irgendwann verstehen werden. Andere glauben das nicht.«
»Wenn die Hummer uns beobachten würden, auf wie viel von dem, was wir tun, könnten sie sich einen Reim machen? Pessimisten sagen, auf gar nichts — oder sehr wenig. Sie könnten vielleicht unserem System des ökonomischen Tausches auf die Spur kommen und ein bisschen auch unserer Biologie und Technologie, aber wie sollten sie Picasso interpretieren können, oder das Christentum, die Burenkriege, Die Brüder Karamasow oder auch nur den Gefühlsgehalt eines Lächelns? Wir kommunizieren unaufhörlich miteinander, und die Zeichen, die wir dafür verwenden, basieren auf allen möglichen spezifisch menschlichen Eigenarten, von der äußeren Physiologie bis hin zur Gehirnstruktur. Das ist der Grund, warum über die Hummer in diesen seltsamen Kategorien der Verhaltensforschung gesprochen wird — das Teilen der Nahrung, ökonomischer Tausch, Symbolschöpfung. Es ist wie bei einem Europäer aus dem neunzehnten Jahrhundert, der das Verwandtschaftssystem der Kwakiutl zu erforschen versucht, ohne die Sprache zu erlernen oder zu irgendwelcher Kommunikation imstande zu sein … nur dass dieser Europäer fundamentale Bedürfnisse und Triebe mit den Indianern gemeinsam hat, während wir mit den Hummern überhaupt nichts gemeinsam haben.«
»Es ist also sinnlos, es zu versuchen?«
»Ein Pessimist würde die Frage bejahen — er würde sagen, lasst uns unsere Informationen sammeln und sortieren und daraus lernen, aber begraben wir die Vorstellung von der grundsätzlichen Verstehbarkeit. Ray Scutter gehört zu diesen Leuten. In einem Vortrag hat er die Idee des exokulturellen Verständnisses einmal als ›romantischen Wahn, vergleichbar dem viktorianischen Fimmel für Spiritismus und Tischerücken‹ bezeichnet. Er versteht sich als eingefleischter Materialist.«
»Nicht alle Leute in Blind Lake teilen diese Sicht«, sagte Chris.
»Natürlich nicht. Es gibt auch eine andere Denkschule. In der Rays Ex zufällig Gründungsmitglied ist.«
»Optimisten.«
»Könnte man so sagen. Sie argumentieren, dass die Hummer zwar einzigartige physiologische Verhaltensvoraussetzungen aufweisen, diese aber seien beobachtbar und prinzipiell verstehbar, denn Kultur sei nichts anderes als erlerntes Verhalten, modifiziert durch Physiologie und Umwelt — erlernbar und daher auch nachvollziehbar. Wenn wir nur genug über das Alltagsleben der Hummer wissen, so glauben sie, dann würde das Verstehen sich zwangsläufig einstellen. Sie sagen, dass alle Lebewesen gewisse Dinge gemeinsam hätten, etwa das Verlangen, sich fortzupflanzen, die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und des Ausscheidens von Exkrementen und so weiter — und das seien genügend Gemeinsamkeiten, um die Hummer eher als entfernte Verwandte denn als grundlegend Fremde anzusehen.«
»Interessant. Was glauben Sie?«
»Was ich glaube?« Elaine schien ein wenig erschrocken über die Frage. »Ich bin Agnostikerin.« Sie legte den Kopf schief. »Sagen wir, es ist 1944. Sagen wir, irgendein E.T. erforscht die Erde, und nehmen wir an, er landet zufällig in einem Vernichtungslager in Polen. Er beobachtet, wie die Nazis den toten Juden das Gold aus den Zähnen brechen, und er fragt sich, ob das ein ökonomiegeleitetes Verhalten ist, ob es etwas mit der Nahrungskette zu tun hat oder was? Er versucht den Sinn zu erkennen, aber er kann es nicht. Wird es nie können. Denn manche Dinge haben keinen Sinn. Es gibt verdammt noch mal Dinge, die man einfach nicht erklären kann.«
»Das ist es, was zwischen Ray und Marguerite steht, diese philosophische Meinungsverschiedenheit?«
»Es ist alles andere als nur philosophisch, jedenfalls soweit es die Blind Laker Politik betrifft. Über diese Frage werden Karrieren gemacht und zerstört. Das Bedeutsame an UMa47 war die Entdeckung einer lebendigen, intelligenten Zivilisation, und folglich wird ein Großteil der Zeit und der Aufmerksamkeit darauf verwendet. Falls aber die Hummerkultur statisch und letzten Endes nicht verstehbar ist, wäre das vielleicht nicht gerechtfertigt. Es gibt Planetologen, die lieber die Geologie und das Klima studieren würden, und es gibt sogar Exozoologen, die sich die örtliche Fauna gern mal etwas genauer ansehen würden. Um diese merkwürdigen Wesen anstarren zu können, ignorieren wir vieles andere — zum Beispiel die anderen fünf Planeten in dem System. Keiner von ihnen ist bewohnbar, aber alle sind neu und unbekannt. Astronomen und Kosmologen fordern seit Jahren eine Erweiterung des Programms.«
»Das heißt, Marguerite befindet sich in der Minderheit?«
»Nein … bisher jedenfalls haben diejenigen, die Hummerhausen weiter erforschen wollen, noch die Meinungshoheit, aber die Unterstützung ist längst nicht mehr die, die sie mal war. Und Ray Scutters Bemühungen gehen dahin, einen Meinungsumschwung zugunsten einer Diversifizierung zu bewirken. Er will nicht an einen einzigen Gegenstand gefesselt sein, während Marguerite genau daran gelegen ist.«
»Aber alles das ist im Grunde sekundär, nicht wahr — seit der Isolierung, meine ich.«
»Es nimmt jetzt nur eine andere Gestalt an. Einige Leute plädieren seit Neuestem dafür, das Auge ganz abzuschalten.«
»Wenn man es abschaltet, gibt es keine Garantie dafür, dass es jemals wieder funktionieren wird. Das müsste selbst Ray klar sein.«
»Bisher wird darüber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Aber die Logik dahinter sagt, wir sind wegen dem Auge abgeschottet, weil irgendjemand Angst hat, dass wir etwas sehen, was wir nicht sehen sollten. Wir müssen nur das Auge abschalten, dann hat sich das Problem erledigt.«
»Wenn die Leute draußen wollten, dass wir abschalten, könnten sie die Stromversorgung unterbrechen. Ein Wort an Minnesota Edison, das würde reichen.«
»Vielleicht sind sie bereit, uns weitermachen zu lassen, einfach um zu sehen, was passiert. Wir kennen das Kalkül nicht. Das Argument lautet: Vielleicht sind wir Versuchskaninchen. Vielleicht sollten wir dem Auge den Saft abdrehen und schauen, ob sie dann den Käfig wieder aufmachen.«
»Es wäre ein unfassbarer Verlust für die Wissenschaft.«
»Aber für die Tagesarbeiter und das Zivilpersonal spielt das nicht unbedingt die entscheidende Rolle. Die wollen nur ihre Kinder sehen oder ihre sterbenden Eltern oder ihre Verlobten. Selbst innerhalb des Forschungsstabes fangen die Leute an, sich über »Optionen« zu unterhalten.«
»Ray eingeschlossen?«
»Ray behält seine Meinung für sich. Aber er wurde erst spät zur Sache der Astrobiologie bekehrt. Früher hat er an ein unbewohntes, steriles Universum geglaubt. Er ist auf den fahrenden Zug aufgesprungen, als es karrieretechnisch sinnvoll schien, aber mein Verdacht ist, dass ihm im Grunde all dieses chaotische organische Zeug noch immer missfällt. Meinen Quellen zufolge hat er sich mit keinem Mucks für ein Abschalten des Auges ausgesprochen. Aber er hat auch kein Wort dagegen gesagt. Er ist der perfekte Politiker. Wartet wahrscheinlich erst einmal ab, woher der Wind weht.«
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