Aber Geraldine schien bereits wieder in eigene Gedanken versunken, und Lucy spürte, daß sie sie schon nicht mehr erreichte.
Sie seufzte. Es blieb tatsächlich alles beim alten.
Als Jessica aus dem The Fox and The Lamb hinaus auf die Straße trat, stand plötzlich Ricarda vor ihr, so unvermittelt, daß Jessica zusammenzuckte. Der Morgen war so herrlich wie am Tag zuvor, voller Sonne und Wärme und schmeichelndem Wind. Auf dem Pflaster vor dem Hotel wälzte sich behaglich eine Katze, streckte alle vier Pfoten in die Luft und ließ sich die Sonnenstrahlen auf den weißen Bauch scheinen.
«Ricarda!«rief Jessica überrascht.
Ricarda wirkte ein wenig unbehaglich und verlegen.»Ich wollte gerade zu dir«, sagte sie.
«Hast du Lust, ein bißchen mit mir zu laufen?«fragte Jessica.
«Da drin ist es ziemlich düster und stickig.«
Ricarda nickte, und sie gingen nebeneinander die Dorfstraße entlang, schweigend zunächst, weil die Fremdheit noch immer zwischen ihnen stand.
So sind wir noch nie nebeneinanderher gelaufen, dachte Jessica, zeitweise schien es ausgeschlossen, daß wir je so weit kommen könnten.
«Ich hab's schon gehört«, unterbrach Ricarda schließlich das Schweigen.
Sie kamen gerade an dem Gemischtwarenladen von Mrs. Collins' Schwester vorbei, und Jessica konnte sehen, daß der kleine Raum voller Menschen war. Sicher wurde die neueste Entwicklung im Fall der Morde von Stanbury House diskutiert, und niemand wollte sich auch nur den kleinsten Informationsfetzen entgehen lassen.
«In der ganzen Gegend wird wohl über nichts anderes gesprochen«, meinte Jessica.
Ricarda nickte.»Schon gestern abend kamen Farmer aus der ganzen Gegend — oder besser: ihre Frauen — zu uns, weil sich offenbar schnell verbreitet hat, daß ich jetzt bei Keith wohne. Jede meinte, von mir noch etwas erfahren zu können. Dabei weiß ich ja auch nicht viel.«
«Du kennst Evelin seit vielen Jahren. Und das macht dich zu einer unschätzbaren Informationsquelle.«
«Sie haben mich angewidert«, sagte Ricarda.»Sie waren so… lüstern. So ganz ohne Sinn für das Schicksal, das hinter all dem steht. Sie wollten einfach nur irgend etwas erfahren, das sie dann ausschmücken und ihrerseits weitererzählen können.«
«Solche Menschen findest du überall. Eine solche Tragödie wie die von Evelin ist für sie nur ein willkommenes Ereignis, das die Langeweile und Gleichförmigkeit ihres Alltags
unterbricht. Und du wirst hier sicher noch für einige Zeit im Mittelpunkt des Interesses stehen. Du kannst nur versuchen, das alles an dir abperlen zu lassen.«
Ricarda nickte. Wieder sagte sie eine Weile nichts, dann fragte sie leise:»Hättest du geglaubt, daß es Evelin war?«
Jessica schüttelte den Kopf.»Nein. Nie im Leben. Obwohl im nachhinein alles zusammenpaßt und eine eigene Logik hat. Hättest du es gedacht?«
Ricarda überlegte kurz, so als wisse sie nicht recht, wie sie formulieren sollte, was ihr durch den Kopf ging. Schließlich sagte sie:»Als ich es erfuhr, wunderte ich mich, warum es mich nicht wirklich überraschte. Verstehst du, was ich meine? Ich war nicht richtig erstaunt, und das machte mich ganz unsicher. Aber dann begriff ich, daß ich die ganze Zeit… irgendwo tief in mir… ahnte, daß sie es war. Daß ich nur nicht daran rühren wollte, weil ich glaubte, ich darf das nicht denken. Ich darf so nicht über Evelin denken. Ich habe sie immer gemocht. Sie war… menschlicher und aufrichtiger als die anderen. Ich wünschte, nicht sie hätte es getan.«
«Dir wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn ich es gewesen wäre«, sagte Jessica, und gleich darauf hätte sie diese Bemerkung am liebsten zurückgenommen, weil Ricarda sie als Provokation empfinden konnte.
Aber Ricarda sah sie nur erstaunt von der Seite an.»Nein. Ich habe gewußt, daß du es nicht gewesen sein konntest.«
«Ja? Warum?«
«Also, du warst ja wirklich die Normalste von allen. Du bist durch und durch gesund.«
«Wahrscheinlich haben wir uns alle ein Stück weit an Phillip Bowen festgeklammert«, sagte Jessica.»Er kam von draußen. Wenn er es gewesen wäre, hätte uns das am wenigsten erschüttert.«
Da machst du dir jetzt aber etwas vor, sagte eine innere Stimme, und Jessica war froh, daß Ricarda geradeaus blickte und ihr nicht in die Augen sah.
«Ich wußte, daß es Phillip nicht war«, sagte Ricarda,»und frag mich nicht, warum. Wahrscheinlich, weil ich spürte, daß es Evelin war. Deshalb habe ich dem Polizisten auch nicht erzählt, daß ich ihn in der Nacht vor der Tat am Tor zu Stanbury House getroffen hatte. Das hätte ihn noch verdächtiger gemacht, oder?«
«Du sagtest doch, du hättest vergessen, die Geschichte bei der Polizei zu erwähnen.«
«Das habe ich gesagt. Aber es stimmte nicht. Ich dachte die ganze Zeit daran. Aber… irgend etwas riet mir, diese Angelegenheit für mich zu behalten. Sie hätte Phillip in Schwierigkeiten gebracht, aber sie war unerheblich. Deshalb… ach, ich mochte ihn auch irgendwie ganz gern. Vielleicht einfach nur, weil Patricia ihn haßte.«
Jessica blieb stehen und sah Ricarda an.
«Du wußtest ziemlich viel, nicht? Über Evelin und alles, was zwischen ihr und ihrem Mann und zwischen ihr und den anderen so ablief?«
Auch Ricarda blieb stehen.»Ja. Ich bekam ziemlich viel mit, und ich konnte nicht begreifen, weshalb man sie so im Stich ließ. Und auch jetzt ist es so…«, sie strich sich mit einer hilflosen Bewegung über die Haare,»…ich meine, es ist so furchtbar, sie hat meinen Vater getötet, und ich habe meinen Vater so sehr geliebt, aber… ich kann sie irgendwie verstehen. Ist das nicht entsetzlich? Nach allem, was war, kann ich… nicht gutheißen, aber nachvollziehen, weshalb sie das getan hat. Und ich kann sie nicht hassen. Wenn ich an sie denke, empfinde ich keine Wut. Ich empfinde… Traurigkeit. Und ganz viel Leere.«
«Das ist das gleiche, was auch ich empfinde«, sagte Jessica,
und vorsichtig fügte sie hinzu:»Und auch ich habe Alexander sehr geliebt.«
Es schien für Ricarda problematisch, auf diese Aussage einzugehen, denn sie schaute zur Seite, unruhig, berührt, unfähig, etwas dazu zu sagen.
Nach einer Weile meinte sie:»Also, weshalb ich eigentlich gekommen bin… Vielleicht könntest du meiner Mutter sagen, sie soll sich keine Sorgen um mich machen. Keith und ich werden zusammenbleiben. Und ich… ich hab mir überlegt, ich will dann sehen, daß ich in Bradford zur Schule gehen kann. Ich möchte einen Abschluß machen. Keith findet auch, daß das richtig ist. Später will ich dann heiraten und Kinder bekommen. Das beruhigt meine Mutter sicher.«
Jessica lächelte.»Bestimmt. Und mich auch. Du bist sehr, sehr reif für dein Alter, Ricarda. Alexander wäre stolz auf dich.«
Ricarda mußte schlucken und brauchte eine ganze Weile, bis sie sich so weit wieder gefangen hatte, daß sie sprechen konnte.
«Wenn… also, wenn du mal wieder in der Gegend bist, irgendwann, ich meine… du kannst mich dann schon besuchen, wenn du willst.«
«Das würde ich furchtbar gern tun. Ganz sicher. Und rufst du mich mal zwischendurch an? Einfach so, damit ich weiß, wie es dir geht?«
«Okay, das ist kein Problem«, sagte Ricarda, und als habe sie Angst, eine allzu sentimentale Stimmung könne aufkommen, fragte sie schnell:»Was wird jetzt eigentlich mit Evelin?«
«Ich muß mit Leon sprechen. Er ist Anwalt, er kann mir vielleicht helfen, sie nach Deutschland überstellen zu lassen. Dort kommt sie sicher in eine geschlossene psychiatrische Klinik. Aber vielleicht kann man sie da besuchen. Ich bin fest entschlossen, sie nicht aus den Augen zu verlieren.«
«Alles klar, das ist gut«, sagte Ricarda. Sie waren ganz am Ende der Dorfstraße angelangt.»Ich muß jetzt nach Hause. Mach's gut, Jessica. Grüß meine Mutter, ja?«
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