«Jetzt knie nieder«, befahl Evelin. Sie sah grotesk aus mit ihrem verschmierten Gesicht, dem Jeanshemd, über dessen Brust Milch gekleckert war, und dem Anglermesser in der Hand. Wie die Hauptdarstellerin eines Horrorfilms in einer irren Szene.
Jessica wollte zur Tür, aber Evelin sprang ihr mit einer erstaunlich behenden Bewegung in den Weg.
«Diesmal bezahlst du«, sagte sie.
Jessica kehrte um und rannte in den hinteren Teil der Halle, stieß die Kellertür auf. Sie wollte jetzt um jeden Preis aus dem Haus, und sie wußte, daß es im Keller einen Ausgang gab. Zu spät fiel ihr ein, daß sie es auch über die Terrasse hätte versuchen können. Sie zog die Tür hinter sich zu, tastete nach dem Lichtschalter. Die nackte Glühbirne an der weiß gekalkten Decke flammte auf. Jessica hörte, daß hinter ihr die Tür verriegelt wurde. Evelin schien nicht vorzuhaben, ihr zu folgen.
Sie will mich entweder hier unten aushungern, dachte Jessica, oder am Ausgang warten. Wenn ihr im Moment überhaupt klar ist, daß es einen Ausgang gibt.
Sie blieb stehen und überlegte. Ihre Lage hatte sich deutlich verschlechtert. Sie saß abermals fest, aber diesmal konnte ihre Gegnerin jederzeit zu ihr gelangen. Sie konnte hier unten nicht lange aushalten, weil sie um keinen Preis einschlafen durfte,und wie sollte sie das über Tage hinweg schaffen? Ihr blieb nur noch, alles auf eine Karte zu setzen und zu versuchen, in den Garten zu gelangen. Vielleicht ging Evelin davon aus, daß sie festsaß. Vielleicht war sie in die Küche zurückgekehrt und fuhr fort, alles aufzuessen, was sie dort fand.
Jessica lief die steinerne Treppe hinunter. Wenigstens konnte sie sich frei bewegen, Evelin vermochte von draußen ganz sicher keinen ihrer Schritte zu hören. Sie schob sich zwischen dem jahrzehntealten Gerümpel hindurch, das sich in dem völlig chaotischen Keller angesammelt hatte. Sie fand einen alten Hockeyschläger und nahm ihn an sich, vielleicht konnte er ihr als Waffe dienen. Spinnweben streiften ihr Gesicht, sie mußte husten, weil sie soviel Staub aufwirbelte. Einmal stolperte sie über eine leere Weinkiste, hielt sich an einem ausgedienten Kleiderständer fest und riß ihn dabei zu Boden. Es krachte laut.
«Scheiße«, fluchte sie. Wenn Evelin mitbekam, daß sie sich in dem Keller bewegte, fiel ihr am Ende die Tür nach draußen ein.
Sie wartete eine ganze Weile, um kein weiteres verdächtiges Geräusch zu verursachen, dann erst schob sie sich wieder langsam vorwärts. Der Keller war groß und verwinkelt. Jessica war selten hier unten gewesen. Das einzige, was die Freunde regelmäßig von hier unten geholt hatten, war der Wein gewesen, und meist hatte den einer der Männer ausgesucht und hochgebracht. So kannte sie sich kaum aus und verlor Zeit damit, in jeden Raum und Gang spähen zu müssen, um die ersehnte Tür zu finden.
Sie entdeckte sie in einem Raum, der wohl als Waschküche gedient hatte, ehe Waschmaschine und Trockner in der Küche etabliert worden waren. Fußboden und Wände waren gefliest, es gab einen Wasseranschluß, und von der einen Wand zur anderen spannte sich eine Wäscheleine, an der eine einsame, vergessene Wäscheklammer schaukelte.
Vor allem aber war da die Stahltür, und jetzt zögerte Jessica nicht mehr. Jede Sekunde des Zauderns gebar neue Angst in ihr. Sie packte den Hockeyschläger fester, ging zur Tür, kämpfte ein paar Momente mit dem ziemlich verrosteten Riegel, konnte ihn aber schließlich zur Seite schieben. Sie stieß die Tür auf, fand sich im moosgrünen Dämmerlicht des Treppenaufgangs wieder und stieg entschlossen die glitschigen Stufen hinauf. Sie hob das Gesicht und gewahrte eine große Gestalt, die am Ende der Treppe auftauchte, und sie fing an zu schreien.
«Nein! Nein! Nein!«
Sie hob den Hockeyschläger, bereit, ihrer Feindin die Schulter, den Arm oder das Bein mit der gewaltigen Wucht eines in Todesangst geführten Schlags zu brechen, aber ihr Gegenüber griff blitzschnell nach der Waffe, hielt sie in eisernem Griff fest.
«Jessica, nicht! Ich bin es, Phillip.«
Sie blinzelte. Ihr war schwindlig geworden, und vor ihren Augen verschwammen alle Konturen.
«Phillip!«
Sie konnte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne hören, so als spreche jemand ganz anderer, der sich hinter ihr oder über ihr befand.»Phillip, o Gott, passen Sie auf, sie ist hier irgendwo. Evelin ist hier irgendwo.«
Sie nahm die letzten zwei Stufen, ließ sich in Phillips Arme ziehen, aber ehe sie der Versuchung nachgeben konnte, ihren Kopf an seine Schulter zu legen und endlich die entsetzliche Anspannung der letzten Stunden von sich abgleiten zu lassen, richtete sie sich wieder auf und entzog sich seiner tröstenden Geste.
«Phillip, sie hat es getan«, sagte sie hastig.»Evelin hat es getan! Sie ist vollkommen durchgedreht. Sie hat ein Messer und wollte auch mich töten. Sie muß hier irgendwo sein,und…«
«Psst«, machte Phillip,»alles in Ordnung. Ganz ruhig. Evelin sitzt neben der Veranda im Gras. Das Messer habe ich.«
Er öffnete seine rechte Hand. Jessica erkannte das Anglermesser.
«Aber…?«fragte sie verwirrt.
«Ich sah sie zum Kellereingang schleichen«, sagte Phillip,»mit diesem scheußlichen Messer in der Hand, und da ich wußte, daß Sie auch hier irgendwo sein mußten, hatte ich das Gefühl, Sie könnten in ziemlicher Bedrängnis stecken.«
Sie sah an ihm vorbei in den Garten. Evelin saß im Schneidersitz mitten im Gras, wie eine dicke, schwarze Raupe. Ihr Gesicht war noch immer verschmiert wie bei einem Kleinkind. Sie starrte vor sich hin, wiegte sich ein wenig, achtete nicht auf die beiden Menschen, die in ihrer Nähe standen. Sie befand sich in einem völlig entrückten Zustand, genau wie damals, als das Verbrechen geschehen war.
Jessica ging auf sie zu, kniete vor ihr nieder. Die dicke Frau hatte Alexander und die meisten seiner Freunde getötet, und sie hatte ihr Stunden der Todesangst bereitet. Und doch konnte sie in diesem Moment nichts anderes für sie empfinden als überwältigendes Mitleid. Sie nahm ihre Hand, die schlaff und feucht in ihrem Schoß lag.
«Evelin«, sagte sie leise.
Evelin rührte sich nicht, hob auch nicht den Blick. Ausdruckslos starrte sie weiter auf das Gras, ohne wahrscheinlich irgend etwas wahrzunehmen. Ein Spuckefaden lief von ihrem rechten Mundwinkel über ihr Kinn. Sie stank entsetzlich nach einer Mischung aus Schweiß und widerlichen Essensresten.
Jessica zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte Evelin vorsichtig das Gesicht ab. Sie hielt dabei immer
noch ihre Hand, erfüllt von dem Wunsch, dieser gequälten, geschundenen Frau ein wenig Wärme und Mitgefühl zu vermitteln — und dabei wußte sie doch, daß sie sie nicht erreichte.
Phillip trat zu den beiden Frauen.
«Ich kam von hinten«, sagte er,»und es war nicht schwer, sie zu überwältigen und ihr das Messer abzunehmen. Innerhalb von Sekunden fiel sie völlig in sich zusammen. Sie setzte sich in die Wiese und war nicht mehr ansprechbar.«
«Waren Sie die ganze Zeit hier?«fragte Jessica.
Er schüttelte den Kopf.»Ich kam hierher, um Abschied zu nehmen. Von Stanbury House und von meinem Vater. Dann wollte ich mich der Polizei stellen. Ich wußte ja, daß ich unschuldig war, und ich wollte nicht länger weglaufen. Aber da tauchten zuerst Evelin auf und dann Sie auf, und ich hatte keine Gelegenheit, ungesehen davonzukommen. Es lag mir daran, von allein zur Polizei zu gehen, nicht von Ihnen beiden entdeckt und festgesetzt zu werden. Ich versteckte mich in dem Kellereingang da unten. Später sah ich Sie dann auf der Bank sitzen.«
«Ich hatte Ihre Grasketten entdeckt. Ich wußte, daß Sie dagewesen sein mußten.«
«Grasketten!«
Er grinste.»Glauben Sie mir, ich merke es gar nicht mehr, wenn ich die Dinger fabriziere. Welch eindeutige Spur!«
Читать дальше