Charlotte Link
Am Ende des Schweigens
Eine eigenartige Stille lag über Stanbury.
Eine große und umfassende Stille, so als habe die Welt aufgehört zu atmen.
Wahrscheinlich, dachte sie, sind alle weggegangen. Zum Einkaufen vielleicht.
Obwohl das seltsam war, denn niemand hatte am Morgen etwas davon gesagt, und für gewöhnlich wurden derlei Vorhaben besprochen. So wie einfach alles zwischen ihnen immer besprochen wurde. Außer den Dingen, die das Gerüst zum Einsturz bringen könnten. Aber dazu zählte nicht, wenn jemand einkaufen ging.
Doch diese Stille reichte tiefer.
Sie überlegte, was so anders war, aber sie kam nicht darauf. Vielleicht lag das auch daran, daß sie so müde war. Die Ereignisse der letzten Tage, die Schwangerschaftsübelkeit, die sie immer wieder befiel, die ungewöhnliche Wärme. Sie konnte sich nicht erinnern, daß je ein April so anhaltend warm gewesen war. Gerade hatte es so ausgesehen, als werde es ein wenig kühler, aber nun kehrte die drückende Schwüle schon wieder zurück.
Sie war weiter gelaufen, als sie es vorgehabt hatte, fast um das ganze Anwesen herum, durch das kleine Waldstück im Westen und über die Hügel im Süden. Erst jetzt merkte sie, wie stark sie schwitzte, daß ihr Gesicht naß war und ihre Haare im Nacken klebten, daß ihr Atem keuchend ging. Barney, ihr junger Hund, schoß wie ein Gummiball vor ihr her und war so munter, als sei er noch keine fünf Minuten an diesem Tag gelaufen. Normalerweise hatte auch sie eine gute Kondition, aber sie hatte schlecht geschlafen in der Nacht, und in den vergangenen Wochen hatte sie sich häufig übergeben. Jetzt, gegen Ende des dritten Monats, schien es besser zu werden, aber sie fühlte sich sehr geschwächt.
Sie war auch einfach zu warm angezogen. Ihre Jacke hatte sie sich schon um die Hüften gebunden, vorhin, als sie über die hoch gelegenen Wiesen gestapft war. Sie hatte sich einige Male dabei ertappt, wie sie sich vorsichtig umschaute. Sie hatte ihn mehrfach getroffen während ihrer langen, einsamen Spaziergänge. Als habe er auf sie gewartet, weil er sicher sein konnte, daß sie käme. Er hatte in ihr eine Verbündete gewittert, und vielleicht lag er damit gar nicht so falsch. Was natürlich bedeutete, daß sie gegen das oberste Gebot der Gruppe verstieß, aber seit einigen Tagen fragte sie sich ohnehin, ob es die Gruppe für sie noch gab, oder besser: ob sie noch dazugehören wollte.
Sie passierte das hohe, schmiedeeiserne Tor, das zur Auffahrt des Anwesens führte. Wie so häufig stand es offen; da die Mauer, die den Besitz umschloß, über weite Strecken zerbröckelt oder gar nicht mehr vorhanden war, machte es ohnehin keinen Sinn, hier pingelig zu sein.
Sie sah sich hoffnungsvoll um: Falls sie alle weggefahren waren, kam vielleicht jetzt jemand zurück und konnte sie die Auffahrt entlang bis zum Haus mitnehmen. Der Weg schlängelte sich über fast einen Kilometer und stieg stetig ganz leicht an. Noch bis vor einem Jahr hatten rechts und links viele Bäume gestanden und Schatten gespendet, aber einige waren von einer Krankheit befallen worden, und man hatte sie fällen lassen müssen. Der Weg hatte dadurch viel von seinem Charme verloren, die Baumstümpfe sahen sehr traurig aus, und die Wildnis dahinter, die stets eine romantische Stimmung vermittelt hatte, wirkte auf einmal verwahrlost.
Es gibt schon eine Menge Zerfall hier, dachte sie.
Weit und breit ließ niemand sich blicken, und nachdem sie noch einmal kurz innegehalten und tief durchgeatmet hatte, machte sie sich daran, die letzte Etappe zu bewältigen. Der Baumwollpullover, den sie trug, klebte an ihrem Rücken, und ihre heißen Füße in den knöchelhohen Turnschuhen fühlten sich dick geschwollen an. Der Gedanke an eine Dusche und an ein Glas eiskalten Orangensaft bekam fast obsessiven Charakter.
Und dann würde sie für den Rest des Tages die Beine hochlegen und sich nicht mehr aus ihrem Liegestuhl fortbewegen.
Obwohl der Spaziergang schön gewesen war, wirklich schön. England im Frühling ließ einem das Herz aufgehen. Sie hatte den kleinen, zerrupften Wölkchen nachgeblickt, die über den lichtblauen Himmel trieben, und sie hatte den milden, verheißungsvollen Wind gerochen, in dem Blütenduft schwang, sie hatte ein paar Schafe gestreichelt, die frei über die Hochmoore liefen und sich ihr zutraulich näherten. Wilde Narzissen blühten in den Tälern und an den Hängen und gossen leuchtendes Gelb über die karge Landschaft. Die Vögel sangen, jubilierten, trällerten in allen Tönen…
Die Vögel!
Sie blieb stehen. Auf einmal wußte sie es. Wußte, woher diese unwirkliche Stille über Stanbury rührte.
Die Vögel waren verstummt. Nicht ein einziger erhob seine Stimme.
Sie konnte sich nicht erinnern, je ein so vollkommenes Schweigen erlebt zu haben.
Von einem Moment zum anderen erkaltete der Schweiß auf ihrer Haut, und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Was brachte Vögel zum Schweigen an einem so schönen, so sonnigen Tag? Etwas mußte ihren Frieden gestört haben, so heftig und so nachhaltig, daß es keine Freude mehr gab, die sie heraussingen konnten. Eine Katze vielleicht, eine räuberische, mordlustige Katze, die einen von ihnen gefangen und getötet hatte, und seine Todesschreie waren in diese lastende, atemlose Stille gemündet.
Obwohl ihre Erschöpfung um nichts nachgelassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie verspürte ein erstes Seitenstechen, wäre gern gerannt wie Barney und hatte doch nicht die Kraft. Noch ein paar Monate, und sie würde unförmig angeschwollen sein und wahrscheinlich watscheln wie eine Ente. Ob sie danach wieder so schlank wäre wie früher? Unsinnigerweise ging ihr dieser Gedanke auf den letzten Metern zum Haus immer wieder durch den Kopf, obwohl sie eigentlich wußte, daß die Frage nach ihrer Figur sie im Augenblick gar nicht interessierte. Eher war es so, daß sie sie in den Vordergrund drängte, um nicht über etwas anderes nachdenken zu müssen. Darüber, weshalb sie fror, obwohl ihr heiß war, und warum sie ein Kribbeln auf der Kopfhaut spürte, und warum sie auf einmal meinte, sich so beeilen zu müssen.
Darüber, warum der helle Frühlingstag plötzlich nicht mehr richtig hell war.
Sie konnte den Giebel des Hauses sehen, einen Teil der schönen Fassade im Tudorstil, die Reflexe des Sonnenlichts in den Bleiglasscheiben. In alter Gewohnheit zählte sie die Fenster unter dem Dach durch — das tat sie immer, wenn sie den Weg hinaufkam; das vierte von links gehörte zu ihrem Zimmer —, und undeutlich konnte sie dahinter den Strauß von Narzissen erkennen, den sie gestern abend noch gepflückt und in einer Vase dorthin gestellt hatte.
Sie blieb stehen und lächelte.
Der Anblick der Blumen hatte ihr ihren Frieden zurückgebracht.
Dann sah sie Patricia, die vor dem Holztrog kniete, der mitten in dem gepflasterten Hof stand. Ein Trog, aus dem früher Schafe oder Kühe getrunken hatten und den jemand vor Jahren auf dem Gelände von Stanbury gefunden und angeschleppt hatte. Seitdem pflanzten sie Blumen hinein, Frühlingsblumen, Sommerblumen, Herbstblumen, und im Winter steckten Tannenzweige darin, um die sich eine Lichterkette schlang.
«Hallo«, sagte sie,»ist das nicht plötzlich unfaßbar warm geworden?«
Patricia hatte sie offenbar nicht gehört, denn sie antwortete nicht und bewegte auch nicht den schmalen, sehr kindlich wirkenden Körper, der in ausgebeulten Jeans, einem blauweiß karierten Hemd und Gummistiefeln steckte.
Barney knurrte leise und rührte sich auf einmal nicht mehr von der Stelle.
Sie trat ein paar Schritte näher.
Patricia kniete nicht vor dem hölzernen Trog, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte, sondern hing über dem Rand, mit dem Gesicht nach unten in der frischen, feuchten Erde. Ihr linker Arm fiel seitlich herab und wirkte dabei auf eigenartige Weise verdreht. Der andere Arm lag neben ihrem Kopf, und die Finger ihrer Hand krallten sich in die Erde, als gebe es dort einen Halt oder irgend etwas, das festzuhalten sich lohnte.
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