«Wenn man Sie kennt«, sagte Jessica.
«Ich war dicht davor, Sie anzusprechen. Aber da erschien plötzlich Evelin. Ich zog mich wieder in den Keller zurück. Als ich später erneut vorsichtig nach oben spähte, waren Sie beide verschwunden. Nur noch Ihre Tasche stand dort, außerdem war das Auto nicht gestartet worden. Ich wußte also, daß Sie noch irgendwo sein mußten. Ich beschloß, daß es mir nun egal wäre,wenn Sie mich entdeckten, durchquerte den Garten, schlug mich durch den Wald seitlich am Haus vorbei und machte mich auf den Weg nach Stanbury. Von dort wollte ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen. Aber kurz bevor ich das Dorf erreichte…«, er zuckte mit den Schultern,»kurz bevor ich das Dorf erreichte, kehrte ich um. Weshalb? Ich hatte die ganze Zeit ein dummes Gefühl. Ich kann es nicht erklären. Eine Intuition vielleicht, eine Ahnung… Ich hatte Evelin an jenem Tag, bevor das Verbrechen geschah, ja noch im Park gesprochen, ich hatte das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung begriffen und… ja, ich hatte da noch etwas gespürt, was ich zunächst nicht benennen konnte, aber was mir plötzlich ganz klarwurde: Ich hatte gespürt, daß Evelin krank ist und daß diese Krankheit über eine bloße Depression hinausgeht. Jetzt würde ich sagen: Ich habe ihren Wahnsinn gespürt. Auf einmal war mir zutiefst unwohl bei dem Gedanken, Sie hier allein mit ihr in diesem einsamen Haus zu wissen. Ich lief den ganzen Weg zurück, und ich glaube, ich kam keine Minute zu früh. Ich sah Evelin mit dem Messer in der Hand zum Kellereingang schleichen. Sie wollte Sie dort wohl abpassen.«
Jessica merkte, wie eine Woge kleiner Kälteschauer über sie hinwegflutete. Wäre Phillip nicht gewesen, hätte Evelin direkt hinter der Tür auf sie gewartet. Gestört, wie sie war, hatte sie doch die Schritte ihrer vermeintlichen Freundin vorhersehen können.
«Ich wäre jetzt vielleicht schon tot«, murmelte sie.
Evelin gab leise, unverständliche Laute von sich. Es hörte sich an wie ein Singsang. Vielleicht ein Kinderlied, dachte Jessica. Vielleicht singt sie ihrem Baby, das auf so brutale Art sterben mußte, ein Lied vor.
Sie ließ Evelins Hand los, die sofort kraftlos in ihren Schoß zurückfiel. Sie stand auf.
«Können Sie bei ihr bleiben?«fragte sie.»Ich muß
telefonieren. Ich werde Norman anrufen, und dann muß ich auch bei Evelins Psychotherapeuten Entwarnung geben.«
«Gehen Sie nur«, sagte Phillip.»Ich bleibe bei ihr.«
Mit langsamen Schritten ging sie zum Haus zurück. Ihr Hunger war verflogen, aber sie sehnte sich nach einer Dusche. Sehnte sich nach ihrem Zuhause, nach Barney, nach ihrer Praxis. Nach der Normalität. Die Frage war, ob sie sie jemals wiederfinden konnte.
Sie nahm ihre Handtasche mit. Kramte ihr Handy hervor. Es zeigte eine ganze Reihe eingegangener Anrufe an. Wahrscheinlich Dr. Wilbert. Sie lächelte ein wenig bitter. Wilbert fühlte sich bestimmt nicht wohl in seiner Haut, aber sie beschloß, ihn erst nach ihrem Gespräch mit Superintendent Norman von seiner Besorgnis zu erlösen. Wilbert hatte es mit seiner Schweigepflicht ihrer Ansicht nach eindeutig übertrieben. Vermutlich hatte er ein Verbrechen dieses Ausmaßes nicht vorhersehen können, aber offenbar hatte er es aufgrund der Einblicke in die Psyche seiner Patientin später durchaus für möglich gehalten, daß sie als Täterin in Frage kam. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er sich offenbaren müssen. Die Tatsache, daß er Evelin in Untersuchungshaft wußte, konnte ihn nicht freisprechen: Die Gefahr, daß man sie aus Mangel an Beweisen freilassen würde, war von Anfang an gegeben gewesen, und ein Mann wie Wilbert hätte dies einkalkulieren müssen.
Sie fand die Karte mit Normans Nummer und trat in die dämmrige Eingangshalle, die sehr kühl wirkte nach der Hitze draußen. Als sie an der Küche vorbeikam, blieb sie stehen und blickte hinein.
Der Kühlschrank stand weit offen, aber auch geschlossen hatte er seit Wochen seine Funktion nicht mehr erfüllt: Jemand hatte ihn abgeschaltet, vielleicht Leon, ehe sie ins Hotel gingen, oder einer von Normans Beamten. Auf der Ablage darüber, wie auch auf dem Tisch, standen wild durcheinander die Lebensmittel, die nach dem abrupten Ende der Osterferien übriggeblieben, aber längst nicht mehr genießbar waren: geöffnete Milchtüten, Joghurtgläser, Gewürzgurken, eine Schüssel mit gekochten Nudeln, die vom bläulichen Flaum des Schimmels überzogen waren; dennoch steckte ein Löffel darin, und Evelin war offenbar dabei gewesen, sie zu verspeisen. Das gleiche mit einem Rest Schokoladenpudding, der zu krabbeln schien, er bestand fast nur noch aus Maden, die sich in ihm und auf ihm gebildet hatten. Evelin hatte auch davon gegessen. Aus der Trinkschokolade, nach der Diane und Sophie verrückt gewesen waren, wuchsen Pilze, ebenso aus den verschiedenen Marmeladengläsern. Daneben ein schimmliger, knochenharter Brotkanten, den Evelin in die saure, klumpige Milch getaucht hatte, um ihn aufzulösen. Jessica betrachtete das grausige Stilleben mit Ekel, aber auch mit einem Gefühl tiefster Traurigkeit: Das ganze Elend, die Leere, die Trostlosigkeit Evelins wurde in dem Bild dieser Küche noch einmal deutlich. Sie konnte sie vor sich sehen, wie sie hier saß und in sich hineinschaufelte, was sie greifen konnte, ohne zu merken, daß sie Schimmel und Maden und Pilze verschluckte, getrieben von nichts anderem als dem Bedürfnis, das Vakuum in sich zu füllen, um zu ertragen, was ihr geschehen war. Und neben der Traurigkeit war da auch noch einmal das Erkennen der Schuld. Einer Schuld, die sie alle traf, die sie hier so viele Wochen, über so viele Jahre verteilt, mit Evelin gelebt hatten. Ohne hinzusehen, ohne irgendeine Initiative zu ergreifen.
Auch ich, dachte Jessica, auch ich habe versagt. Ich habe mir vielleicht mehr Gedanken um sie gemacht als die anderen, aber davon hatte sie nichts. Ich bin nicht aktiv geworden. Dabei stand die Wahrheit so deutlich vor mir, wäre ich nur mutig genug gewesen, ihr ins Gesicht zu sehen.
Sie trat ans Telefon und zögerte einen Moment: Verriet sie
Evelin ein zweites Mal, wenn sie nun Superintendent Norman anrief? Aber letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, Phillip mußte von jeglichem Verdacht befreit werden, und Evelin brauchte Hilfe, die sie nur in einer geschlossenen Klinik finden konnte. Man würde sie kaum ins Gefängnis schicken. Wie ihre Mutter würde sie in der Psychiatrie landen, ein Opfer von Gewalt und Gleichgültigkeit.
Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Superintendent Norman.
Das Telefon klingelte, als Leon gerade die Tür zu seiner Wohnung aufschloß. Es war früh am Morgen, und er fragte sich, wer wohl um diese Zeit bei ihm anrief. Er hatte, um sich fit zu halten, nicht den Aufzug benutzt, sondern war die Treppen hinaufgelaufen, in zügigem Tempo, und so war er völlig außer Atem, als er sich meldete.
«Ja, Roth hier.«
Gleich darauf zeigte sich Überraschung auf seinem Gesicht.»Jessica! Wie schön, daß du mich anrufst! Was? Die letzten Tage? Ich war nicht zu Hause, bin eben erst wiedergekommen.«
Er lauschte, und sein freudiges Staunen wandelte sich in immer größere Ungläubigkeit.»Was? Evelin? Das kann doch nicht wahr sein?! Ist das denn sicher? Ich meine, dieser Bowen…«
Er angelte sich einen Stuhl und setzte sich, weil ihn die Nachricht fast von den Füßen riß.»Ja, ja, dann muß es wohl so sein. Aber wer hätte das gedacht? Unsere gutmütige, nette Evelin mit den traurigen Augen… Wie? Also bitte, Jessica, nun versuche hier nicht Schuld umzuverteilen! Ich meine, was hätten wir denn tun sollen? Sind wir verantwortlich für das Leben anderer?«
Er ereiferte sich langsam, es war unglaublich, daß er sich nun auch noch Vorwürfe machen lassen sollte. Seine Frau war ermordet worden, und seine beiden Töchter. Er war Opfer, nicht Täter.
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