«Du hast ihn getötet«, sagte Jessica und wich erneut um einen Zentimeter zurück.
Evelin nickte. In ihr Lächeln mischten sich Stolz und ein Anflug von Selbstgefälligkeit.»Ich ging zu ihm hin und fragte, was los sei, und er sagte, ich solle ihm jetzt gefälligst helfen, seine Unterlagen zu suchen, und nicht fett und faul in der Sonne sitzen. Ich folgte ihm ins Haus. In der Halle blieb er stehen und überlegte, und dann meinte er, er habe noch nicht in der Küche gesucht. Ich sagte: ›Wieso solltest du denn deine Unterlagen in der Küche verstaut haben?‹ Er schnauzte mich an: ›Und wenn wir die ganze Küche auseinandernehmen, wenn wir das ganze verdammte Haus auseinandernehmen, wir suchen jetzt, bis wir die Sachen gefunden haben.‹
Wir gingen in die Küche, und er riß alle Schubladen und Schränke auf und stöberte darin herum, und ich suchte mit, obwohl ich ja wußte, daß die Papiere dort nicht sein konnten. Und dann fiel mein Blick auf die Anglermesser über der Spüle, und fast gleichzeitig sah ich, daß Tim auf den Knien lag und in einem der Unterschränke wühlte. Ich nahm das Messer vom Haken, trat dicht an ihn heran und beugte mich über ihn. Ohne hochzuschauen, sagte er: ›Verdammt, geh mir aus dem Licht!‹ Aber anstatt ihm aus dem Licht zu gehen, beugte ich mich noch tiefer und schnitt ihm die Kehle durch. Er gab keinen Laut von sich, plumpste auf den Bauch und blieb liegen.
«Und dann bist du weitergegangen und hast jeden getötet, der deinen Weg kreuzte«, sagte Jessica.
Evelin sah plötzlich angestrengt aus.»Ich erinnere mich so schlecht. Es liegt ein Schleier über allem, was war. Ja, ich sehe Patricia. Sie kniet an dem Blumentrog im Hof, nicht wahr? Ich töte sie und laufe weiter. In den Park. Ich sehe jemanden auf einer Bank sitzen. Einen Mann. Ich sehe ihn nur von hinten. Er hört mich nicht kommen. Er ist versunken in seine Gedanken. Ich glaube, ich könnte schreien, aber er würde mich nicht hören.«
«Alexander«, flüsterte Jessica. Ihre Ohren begannen zu rauschen, ihr Mund fühlte sich strohtrocken an.»Bitte, nicht weiter…«
Es war fraglich, ob Evelin sie überhaupt gehört hatte.
«Ich töte ihn. Es geht so einfach. Sie sind alle so leicht zu töten. Es kostet mich nichts, keinerlei Anstrengung. Sie wehren sich nicht. Sie sterben einfach. Und ich begreife nicht, weshalb ich so lange damit gewartet habe. So viele Jahre. So viele Jahre leiden unter ihnen. Dabei ist es so einfach, sie zu töten.«
Sie schüttelte den Kopf, tief verwundert.»So einfach«, wiederholte sie.
«Warum Diane?«fragte Jessica tonlos.»Warum Sophie? Warum zwei kleine Kinder?«
Evelin bekam wieder den angestrengten Gesichtsausdruck.
«Sie haben über mich gelacht. Immer wieder. Sie haben geflüstert, wenn ich in ihre Nähe kam. Ich habe gesehen, wie sie mich verachteten. Ich war der letzte Dreck in ihren Augen. Es ist in Ordnung, daß sie bezahlt haben. Daß sie tot sind.«
Sie starrte Jessica an.
Gleich, dachte Jessica, fällt ihr auf, daß ich auch zu ihnen gehört habe.
«Evelin, hör zu«, sagte sie,»dir muß doch klar sein, daß du Phillip völlig falsch verstanden hast an jenem Tag. Er hat nie im Leben gemeint, du sollst hingehen und deinen Mann und seine Freunde töten. Er hat gemeint, geh hin zu Tim, schrei ihn an, verbitte dir diesen Ton, nimm dir einen Anwalt, reiche die Scheidung ein, zeige ihn an wegen Körperverletzung, fordere Schmerzensgeld und Unterhalt in astronomischen Höhen. Geh hin zu deinen und seinen Freunden, die du nicht mehr Freunde nennen mußt, wenn du nicht willst, und klage sie an, erzähle ihnen, was passiert ist, und mache ihnen klar, wie jämmerlich sie versagt haben. Aber verbaue dir doch nicht dein eigenes Leben, indem du wehrlose Menschen abschlachtest, die sich dir gegenüber falsch verhalten haben, die du aber auch nie konfrontiert hast mit der Hölle, in der du gelebt hast. Sie sind gestorben, ohne daß sie sich verantworten mußten für ihre Feigheit, ihr Wegschauen, ihr Schweigen. Gibt dir das wirklich ein gutes Gefühl?«
«Die haben sich verantwortet«, entgegnete Evelin mit Schärfe in der Stimme,»die haben für mein verpfuschtes Leben mit ihrem Leben bezahlt. Das ist Gerechtigkeit.«
«Dein Leben ist doch nicht verpfuscht. Du bist jung. Es gibt tausend Männer auf der Welt, die dich glücklich machen können. Warum hast du nicht Tim einfach einen Fußtritt gegeben und bist gegangen?«
«Es hätte nicht ausgereicht«, sagte Evelin, und nach einer Sekunde des Schweigens setzte sie aggressiv hinzu:»Und hör auf, mir zu sagen, was ich hätte tun sollen! Du bist kein bißchen besser als sie. Du hast mich verhöhnt und verspottet. Du hast dich geweigert, mir zu helfen. Du hast mich genauso im Stich gelassen wie all die anderen. Du spielst dich auf als Freundin und Beraterin, aber in Wahrheit war ich dir immer scheißegal.«
«Ich bin sofort hierhergekommen, als du mich angerufen hast. Ich stehe jetzt hier mit dir und lasse mich anklagen, während zu Hause möglicherweise Patienten vor meiner Praxis, deren Wiedereröffnung ich überall angekündigt habe, stehen und wahrscheinlich so wütend sind, daß ich sie nie wiedersehe. Würde ich das tun für eine Frau, die mir scheißegal ist?«
Aber Evelin ging auf diese Erklärung mit keinem Wort ein,und Jessica begriff, daß es kaum einen Sinn machte, mit ihr zu reden.
«Du denkst doch nur an dein Baby, an dein dreckiges Baby«, sagte Evelin voller Haß.»Und du denkst, du bist der bessere Mensch, nur weil in deinem Bauch irgendein blöder Balg wächst, während mein Bauch tot ist für immer!«
«Das ist Unsinn«, erwiderte Jessica, und in diesem Moment trat wieder der Ausdruck tiefsten Wahnsinns in Evelins Augen, und sie machte zwei schnelle Schritte auf Jessica zu, das Messer fest in der Hand.
«Du bist die nächste«, stieß sie leise hervor,»du und dein verdammter Balg, ihr seid die nächsten!«
Geistesgegenwärtig machte Jessica einen Sprung zur Seite und ließ Evelin ins Leere laufen. Sie stand jetzt neben der Bank und hatte die Wahl, in welche Richtung sie laufen wollte. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie, weder in Richtung Dorf zu fliehen noch in den Wald; gegenüber der vor Haß wahnsinnigen Evelin hätte sie in beiden Fällen keine Chance gehabt. Statt dessen rannte sie zum Haus hinüber, dessen Tür noch offenstand. Sie stürzte in die Halle, schlug die schwere Holztür hinter sich zu. Es steckte kein Schlüssel, und es blieb keine Zeit, nach ihm zu suchen. Jeden Moment würde Evelin hereingestürmt kommen. Jessica drehte sich um, jagte durch die Halle und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Sie überlegte, wo sich ihre Handtasche befand, und ihr fiel ein, daß sie sie auf der Bank abgestellt hatte. Ihr Handy befand sich darin, so daß sie keine Möglichkeit hatte, Hilfe herbeizutelefonieren. Zwar befand sie sich zunächst in Sicherheit: Sie hatte sich in das Schlafzimmer geflüchtet, das sie mit Alexander geteilt hatte, hatte die Tür zugeknallt und den Schlüssel umgedreht. Sie war auf das Bett gesunken und hatte erstaunt auf ihre Hände geblickt, die unkontrolliert zitterten. Es dauerte zehn Minuten, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte und ihr Herz einigermaßen normal schlug.
Sie schaute sich in dem Zimmer um.
Bis auf den modrigen Geruch, der bewies, daß lange kein Fenster mehr geöffnet worden war, und die Staubschicht, die über allen Gegenständen lag, vermittelte der Raum den Eindruck, als seien seine Bewohner nie abgereist — oder, wie Jessica im stillen hinzufügte, ermordet worden. Das Bett war ordentlich gemacht, aber auf Alexanders Seite schaute ein Stück seines blauen Schlafanzugs heraus. Ein Pullover von ihm lag über der Sessellehne, eine Krawatte hing über der Ecke des Spiegels. Jessica hatte damals, ehe sie ins The Fox and The Lamb übersiedelte, ein paar Dinge mitgenommen, aber sie hatte es später entgegen ihrer ursprünglichen Absicht nicht fertiggebracht, hierherzukommen und den Rest einzupacken, ehe sie nach Deutschland zurückflog. Sie entdeckte ein Paar Ohrringe von sich auf der Kommode und ihr Duschhandtuch, das sie über einen Stuhl gehängt hatte. Am Fenster standen, völlig vertrocknet und braun geworden, die Narzissen, die sie gepflückt hatte. Das Wasser war längst in der Vase verdunstet.
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