«Ich muß Sie operieren«, sagte ein Arzt, der ein blasses, sympathisches Gesicht hatte und recht müde aussah, und sie hatte leise gefragt:»Was ist mit meinem Baby?«
Er hatte nicht darauf geantwortet, aber sie konnte in seinen Augen lesen, daß es nicht die mindeste Hoffnung für ihr Kind gab.
Sie vernahm ein leises Wimmern und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß es von ihr selbst stammte. So viele Jahre waren vergangen seither, und der Schmerz hatte sich um nichts, um gar nichts gemildert. Sie erinnerte sich, daß Tim dagewesen war, als sie aus der Narkose aufwachte.
«Ich muß auf die Toilette«, waren ihre ersten Worte gewesen, und Tim hatte gesagt:»Nein, Schatz, das bildest du dir ein. Sie haben dir einen Blasenkatheter gelegt. Der drückt wahrscheinlich.«
Sie hatte fast geweint, weil er ihr nicht glauben wollte.»Bitte. Ich muß so dringend. Bitte, bitte tu etwas.«
Er hatte eine Schwester geholt, und Evelin hatte sie angefleht, den Katheter zu entfernen, doch sie hatte sich zuerst geweigert, dann aber nachgegeben, als sie begriff, daß Evelin dicht davor stand, hysterisch zu werden. Es war absurd, sie hatte ihr Baby verloren, ihr Leben lag in Trümmern, die Zukunft war nur mehr ein schwarzes Loch ohne Hoffnung, und sie drehte durch wegen eines Blasenkatheters und brachte die halbe Wachstation durcheinander. Als nächstes bestand sie darauf, zur Toilette zu gehen, ein Vorhaben, dem die Schwester nach einiger Diskussion entnervt und zermürbt zustimmte.
«Aber Sie schließen keinesfalls hinter sich ab«, hatte sie verlangt.»Am besten, Ihr Mann geht mit hinein.«
Also war sie mit ihrem Bauchschnitt durch das Zimmer gehumpelt, vorbei an den Betten anderer frisch operierter Frauen, die alle taten, was man von ihnen erwartete und friedlich schliefen, den fahrbaren Ständer mit dem Tropf daran hinter sich herziehend, Tim an ihrer Seite, der sie fürsorglich stützte. Sie hätte nie gedacht, daß sie es ertragen könnte, ihn neben sich zu haben, während sie zu pinkeln versuchte, aber plötzlich machte es ihr gar nichts aus, im Gegenteil, er war besorgt, bemüht, fast zärtlich, und später dachte sie manchmal, daß diese Momente auf der Wachstation letztlich zu den besten ihrer Ehe gezählt hatten.
Natürlich war ihre Blase leer gewesen, sie hatte gar nicht pinkeln können, und darüber hatte sie erneut zu weinen begonnen, während Tim sie ohne Vorwürfe zum Bett zurückgeleitete und ihr vorsichtig half, sich wieder hinzulegen.
«Was ist mit dem Baby?«fragte sie.
Er hatte ihr die wirren Haare aus der Stirn gestrichen.»Sie konnten es nicht retten. Es lebt leider nicht mehr.«
Nachdem er gegangen war, hatte sie keine Sekunde Schlaf mehr gefunden. Sie lag wach und starrte in die von einem Notlicht schwach erhellte Dunkelheit, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen der anderen. Regelmäßig erschien die Schwester, um den Blutdruck zu messen, tief erstaunt, Evelin jedesmal hellwach vorzufinden.
«Sie müßten eigentlich von der Narkose noch ziemlich schläfrig sein. Versuchen Sie doch, sich ein bißchen zu entspannen.«
Was ihr natürlich nicht gelang. Wie sollte sie das machen schlafen, wenn sie nicht wußte, wie das Leben weitergehen sollte?
Das Ende war so jäh und grausam gekommen, daß sie eine Weile gebraucht hatte, den Verlust zu begreifen. Sie entsann sich, daß der Schmerz schlimmer geworden war, je mehr Zeit verging, weit schlimmer, als er in jener Nacht gewesen war. Er hatte sich immer neu entzündet an dem quälend gleichförmigen Alltag, an den endlosen Stunden, die ein Tag brauchte, um zum Abend zu werden, an den unwichtigen, nutzlosen Tätigkeiten, in die sie flüchtete, um zu vergessen, und die doch keine Sekunde des Vergessens brachten. Er entzündete sich an jedem Kinderwagen, den sie in den Straßen sah — und aufgrund irgendeiner bösartigen Fügung schien es plötzlich von Kinderwagen geradezu zu wimmeln —, und an jeder Frau, die mit dickem Babybauch an ihr vorbeiwatschelte. An jedem Gespräch, das Menschen in ihrer Umgebung über ihre Kinder führten, und an jeder Einladung zu einer Taufe, die ins Haus flatterte.
Und natürlich hatte Tims Fürsorge kaum zwei Tage angehalten, und ihrer beider Beziehung war unmittelbar nach der Tragödie wieder in das Fahrwasser von Quälerei und Verzweiflung geraten.
Nicht nachdenken! Hör jetzt damit auf!
Sie schloß energisch die Schranktür, obwohl noch eine ganze Reihe ihrer Schlabberkleider nicht eingepackt waren. Vielleicht sollte sie sich endgültig von ihnen verabschieden, schließlich hatte sie beschlossen, nun endlich zu der schlanken, attraktiven Mittdreißigerin zu werden, die von den Frauenzeitschriften immer als Ideal propagiert wurde. Allerdings gründete sich deren faszinierende Ausstrahlung nicht allein auf ihr gutes Aussehen, sondern natürlich auch auf die Tatsache, daß sie entweder mit Schwung und Kraft eine Familie versorgte oder Karriere in irgendeinem tollen Beruf machte, oder beides gleichzeitig tat. Bei ihr, Evelin, hingegen haperte es auf der ganzen Linie: Sie hatte weder eine Familie noch einen richtigen Beruf. Sie hatte nicht einmal mehr eine Beziehung.
Wenigstens hatte sie Geld. In den Kreisen mancher Frauen zählte es durchaus auch als Karriere, reich geschieden oder zur reichen Witwe zu werden. So gesehen war ihr Leben bislang nicht völlig erfolglos verlaufen.
Sie blickte aus dem Fenster und sah Jessica, die die Auffahrt hinunterging.
Das war vollkommen gegen die Absprache, und es erstaunte sie. Sie hatten zusammen mit dem Auto zurückfahren wollen. Und selbst wenn Jessica trotz ihrer Leidenschaft, Wege möglichst zu Fuß zurückzulegen, plötzlich umdisponiert hatte, paßte es nicht zu ihr, sich ohne ein Wort einfach auf und davon zu machen.
Evelin drehte sich um und rannte aus ihrem Zimmer. Sie hatte wirklich ganz schön abgenommen in der Zeit, die sie im Gefängnis gesessen hatte. Sie merkte es daran, wie behende und schnell sie die Treppe hinuntergelangte. Durch die Halle hindurch, hinaus ins Freie. Hitze und Blütenduft und Helligkeit empfingen sie. Eine dicke, pelzige Hummel brummte dicht an ihrem Kopf vorüber.
Sie würde Jessica einholen.
Vom Fenster aus hatte sie gesehen, daß sich die Freundin bei weitem nicht so leichtfüßig bewegte wie sonst. Irgendwie schwerfällig, müde, angestrengt.
Eine Erinnerung keimte in ihr. Der Abend vor der Tragödie. Die Sitzecke vor dem Kamin im Wohnzimmer. Alexander. Er hatte davon gesprochen, daß…
Wie hatte sie das nur verdrängen können?
Sie jammerte leise, weil der Schmerz kaum erträglich war.
Jessica hatte die leise Hoffnung gehegt, Evelin könne den Schlüssel im Auto stecken gelassen haben. Sie war um das Haus herumgegangen und hatte ihr kleines englisches Leihauto vor dem Eingangsportal stehen sehen. Ein kurzer Blick die Hauswand hinauf, aber auch hier vorn schien sich nichts zu regen hinter den Fenstern.
Das Auto war nicht abgeschlossen, wie sie gleich darauf feststellte. Aber leider fehlte der Schlüssel. Evelin hatte ihn abgezogen.
In Windeseile — dazwischen immer wieder scharf zur Haustür blickend — durchstöberte sie Handschuhfach, Seitenfächer und die Ablage zwischen den Vordersitzen. Nichts, natürlich. Es bestand die Möglichkeit, daß Evelin den Schlüssel in der Halle auf einem der kleinen Tischchen abgelegt oder sogar ordentlich an das Schlüsselbrett in der Küche gehängt hatte und dann nach oben gegangen war. Kurz erwog Jessica, hineinzuhuschen und nachzusehen. Verwarf diesen Gedanken dann jedoch als äußerst riskant und allzu vage im Ausgang: Evelin hatte nach ihrer Ankunft in Stanbury House ja zunächst Tims Unterlagen aus der Sickergrube geholt. Und dazu den Schlüssel vermutlich in ihre Hosentasche geschoben, wo er mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit noch immer steckte.
Tims Unterlagen.
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