Jessica starrte auf die Papiere, die sie noch in der Hand hielt, und plötzlich dachte sie, ob es das war. Ob Evelin nur darauf gewartet hatte. Auf eine Gelegenheit, an die versteckten Aufzeichnungen heranzukommen und sie weiterzugeben. Vielleicht hatte sie nicht gehen wollen, ohne die Wahrheit über ihren Peiniger ans Tageslicht zu bringen. Die dicke, durchgeknallte Evelin, die am Schluß hinging und sich aufhängte — wenigstens hatte sie vorher noch dafür gesorgt, daß der Mann entlarvt wurde, der sie dahin getrieben hatte.
Sie wollte um das Haus herumlaufen, wollte die Tür aufreißen, wollte die Treppe hinaufrennen, so schnell sie konnte, aber ihre Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Sie stand wie angewurzelt, stand im Gras unter den Apfelbäumen, starrte die Hauswand an, gepeinigt von einem Bild, das sie vor sich sah: Evelin dort drinnen, Evelin, die nie vorgehabt hatte, ihre Sachen zu packen, die so aufrecht und entschlossen wie noch nie davongegangen war, die eine feste Stimme und einen klaren Blick gehabt hatte, die völlig verändert gewesen war.
O Gott, ich kann da nicht reingehen, dachte sie entsetzt, ich kann nicht schon wieder in dieses Haus gehen und jemanden finden, der tot ist, ich ertrage es nicht noch einmal, ich kann nicht den nächsten Alptraum erleben, ohne den letzten verkraftet zu haben…
Sie atmete tief durch, bemühte sich, ruhiger zu werden und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war dabei, die Nerven zu verlieren, und das war das Dümmste, was ihr im Moment geschehen konnte.
Ich weiß ja nicht, ob sie sich etwas angetan hat. Ich vermute es nur. Ich habe keine Ahnung.
Natürlich spielte ihre Phantasie ihr einen Streich. Was gab sie eigentlich auf das wirre Geschreibsel eines toten Psychopathen?
Aber sie ist depressiv. Das wußte ich von Anfang an. Ich habe mir immer Sorgen um sie gemacht. Ich habe nie verstanden, warum die anderen es nicht bemerkten.
Sie hob die Stimme und rief ein paarmal Evelins Namen. Nichts rührte sich, niemand antwortete. Leise raschelte der Wind in den Zweigen der Bäume.
Es war wie verhext, es gelang ihr einfach nicht, in das Haus zu gehen. Der Schweiß brach ihr aus, und ihre Knie schienen plötzlich aus Pudding. Sie kam nicht von der Stelle.
Wenn nur jemand da wäre. Irgend jemand, Leon vielleicht, oder sogar Ricarda. Jemand, der ihr Mut zusprechen und die scheußlichen Gedanken vertreiben würde.
Komm, mach dich nicht verrückt. Evelin steht da oben in ihrem Zimmer, sucht ihre Sachen zusammen, trödelt, blättert in Büchern, schaut alte Fotos an, vergißt die Zeit. Geh jetzt einfach rein und sag ihr, daß du zurück ins Dorf möchtest.
Aber es war niemand da. Niemand redete ihr gut zu. Sie war allein, genau wie an jenem Tag. Sie war schon wieder ganz allein.
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die kalte, feuchte Stirn. Sie konnte hier stehenbleiben und warten, daß Evelin irgendwann herauskam, aber wenn die Freundin dabei war, sich im Haus etwas anzutun, würde sie für immer mit dem Wissen leben müssen, nichts zu ihrer Rettung getan zu haben. Konnte man damit leben?
Plötzlich fiel ihr etwas ein, und für Sekunden hielt sie den Atem an. Wie hatte sie bloß Dr. Wilbert vergessen können?
Der Morgen in seiner Praxis stand ihr mit einemmal ganz deutlich vor Augen. Seine Besorgnis um Evelin. Er hatte gebeten, es sofort zu erfahren, wenn sie aus der Haft entlassen würde.
«Ich möchte bereitstehen«, hatte er gesagt. Hatte auch er die
Möglichkeit eines Suizidversuchs gesehen und gefürchtet?
Sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie vergessen hatte, ihn zu informieren. Wochenende hin oder her, sie hätte ihn anrufen müssen. Vielleicht hätte er sie sogar nach Stanbury begleitet. Und sie müsste nun hier nicht mutterseelenallein stehen und voller Grauen darüber nachdenken, welch schreckliche Szenerie sie drinnen im Haus möglicherweise erwartete.
Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog das Handy heraus, suchte weiter. Wenn sie Pech hatte, lag die Karte zu Hause auf ihrem Schreibtisch. Wenn sie Glück hatte, befand sie sich irgendwo in der Tasche.
Sie fand sie in einem Seitenfach, ziemlich zerknickt und zerdrückt, zog sie heraus. Dr. Edmund Wilbert — der Mann, der Evelin wahrscheinlich besser kannte als ihr Ehemann. Vielleicht konnte er ihr wenigstens aus der Ferne sagen, was nun am besten zu tun war.
Zwei Minuten vor ein Uhr. Sie konnte ihn gerade noch erwischen, ehe er vermutlich in die Mittagspause ging.
Die Vorwahl von Deutschland. Die Vorwahl von München. Dann seine Telefonnummer. Das Klingelzeichen ertönte. Sie atmete tief. Er war nicht besetzt. Sie betete, er möge da sein.
«Wilbert«, sagte seine Stimme. Vor Erleichterung hätte sie fast geschluchzt. Sie gab einen Seufzer von sich, und ungeduldig wiederholte er:»Wilbert. Wer ist denn da?«
«Dr. Wilbert, hier ist Jessica Wahlberg. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern, ich…«
«Ja, selbstverständlich erinnere ich mich. Sie sind Evelins Freundin. Was ist geschehen?«
Er klang plötzlich angespannt. Vermutlich konnte er an ihrer Stimme hören, daß sie tief beunruhigt war.
«Ich weiß gar nicht, ob etwas geschehen ist, vielleicht bilde ich mir alles nur ein…«
Jessica kam sich plötzlich albern vor.»Ich bin in England«, fuhr sie fort,»ich bin hierher geflogen, um Evelin abzuholen.«
«Sie ist aus der Haft entlassen?«
«Ja, sie haben jetzt den richtigen Täter. Das heißt, sie fahnden noch nach ihm, aber es steht fest, daß er es war. Evelin wartet nur noch auf ihren Paß…«
«Frau Wahlberg…«
Sie meinte, erneut einen Anflug von Ungeduld zu vernehmen, und sagte hastig:»Ich weiß, wir hatten vereinbart, daß ich Ihnen Bescheid geben würde, wenn Evelin entlassen würde. Es ging nur alles so schnell und kam so unerwartet… ich habe einfach vergessen, Sie anzurufen. Aber nun brauche ich dringend Ihre Hilfe. Es ist… es gibt Aufzeichnungen von Tim, von Evelins verstorbenem Mann, und danach schätzt er sie als hochgradig selbstmordgefährdet ein. Offenbar hat er selbst gerade in der letzten Zeit vor seinem Tod mit gezielten Schikanen dies vorangetrieben. Er war ein ziemlich gestörter Typ, Dr. Wilbert, aber am Ende hat er recht mit seiner Einschätzung, zumal es ja eine Einschätzung ist, die Sie ebenfalls teilen, und…«sie holte tief Luft,»und ich stehe jetzt hier, und Evelin ist seit fast einer Stunde im Haus verschwunden, ich kann nichts von ihr hören oder sehen, und ich habe nicht die Kraft, jetzt ins Haus hineinzugehen und sie womöglich zu finden, ich weiß, ich sollte es einfach tun, aber…«
Sie ließ den Satz unbeendet, holte erneut tief Luft, weil sie schon wieder das Atmen vergessen hatte beim Reden. Sie war sicher, daß er nun zurückfragen würde:»Ja, und was soll ich jetzt für Sie tun? Von München aus?«
Statt dessen fragte er:»Wo genau sind Sie im Moment?«
«Stanbury House. Ich mußte einfach noch einmal hierher, und dann habe ich überraschend Evelin getroffen. Sie hatte diese Aufzeichnungen ihres Mannes hier versteckt und holte sie sich wieder. Sie hat sie mir ausgehändigt, damit ich sie lese, und ist dann ins Haus gegangen, um ein paar Sachen zu packen. Aber das ist eine halbe Ewigkeit her, und… Dr. Wilbert, sie hat ein Martyrium hinter sich. Er, ich meine Tim, er hat sie jahrelang systematisch gequält und gepeinigt, und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie jetzt…«
Er unterbrach sie. Er klang jetzt noch angespannter als zu Beginn ihres Gesprächs.»Sie sind ganz allein dort mit ihr? Auf diesem einsamen Anwesen?«
«Ja. Und deshalb fühle ich mich auch so überfordert, weil…«
«Jessica, hören Sie, ich möchte, daß Sie jetzt, ohne lange zu fragen, tun, was ich Ihnen sage: Verschwinden Sie. Sehen Sie zu, daß Sie wegkommen, so schnell und so unauffällig Sie können. Beeilen Sie sich. Bitte.«
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