Jedenfalls stellte sich nun also heraus, daß die Tatsache, daß man in jenem Haus durch die Küche in den Garten hatte gelangen können — früher wurden Häuser häufig so gebaut —, von entscheidender Bedeutung war. Irgendwie hatte Evelin wohl in ihren Therapiestunden immer wieder einen Zusammenhang hergestellt zwischen ihren Aufenthalten in der Küche und der romantischen, steinernen Treppe, die von dort in den Garten führte. Aber es brauchte Jahre, bis sie sich der Tatsache stellte, daß sie in der Treppe ihren einzigen Fluchtweg gesehen hatte, wenn ihr Vater die Kontrolle über sich verlor und ihre Mutter binnen weniger Minuten in ein zerschlagenes, wimmerndes, um Erbarmen flehendes Bündel Elend verwandelte. Evelin saß zitternd in der Küche, sprungbereit, die Tür im Auge.
So war es gewesen. Und nun wußte sie es. Und mußte sehen, wie sie damit fertig wurde.
Sie ging in dieser Zeit noch öfter zu Wilbert, so oft, daß ich ernsthaft überlegte, ihr diesen Umgang zu verbieten. Ich hätte sie dazu bringen können, mit Liebesentzug brachte man sie zu allem, aber es ging ihr beschissen, nachdem ihr Verdrängungsmechanismus nicht mehr funktionierte, und ich dachte, Wilbert soll ausbaden, was er angerichtet hat, warum soll ich mich mit einer ewig heulenden, durchgeknallten Depressiven herumschlagen? Geschehnisse aus ihrer Kindheit und Jugend brachen nun wie Sturzbäche aus ihr hervor, und manchmal wurde selbst mir ganz schwindlig dabei. Ich meine, ich hatte gewußt, daß da vieles früher passiert sein mußte bei ihr, umsonst ist eine junge Frau nicht derart schüchtern und verklemmt und bereit, eine ewige Opferrolle zu spielen; aber nun begann ich ein wenig Angst zu bekommen. Hoffentlich kriegte Wilbert, der alte Scharlatan, dieses kaputte Geschöpf halbwegs in den Griff. Ich hatte, weiß Gott, keine Lust, plötzlich eine Kopie ihrer Mutter an der Hacke zu haben!
Obwohl es ihr nicht gutging, durchlebte sie zweifellos im Aufarbeiten ihrer Kindheit eine gewisse Selbstbefreiung, und das mochte manche Verkrampfung in ihr lösen, jedenfalls wurde sie plötzlich schwanger, nachdem sie zuvor jahrelang vergeblich darauf gehofft hatte. Sie flippte schier aus vor Glück, und auch ich freute mich zunächst, als ich davon hörte. Ich hatte Kinder nicht direkt in mein Leben eingeplant, aber ich hatte auch nichts dagegen. Doch dann nahm Evelin eine Entwicklung, die mir zunehmend mißfiel: Mit jedem Monat, den das Baby in ihrem Bauch wuchs, entfernte sie sich von mir. Es war, als nehme das ungeborene Wesen immer mehr meinen Platz ein, den Platz der Bezugsperson, es wurde zu ihrem Mittelpunkt, zum Wärmespender, zum Objekt ihrer Zuneigung und Liebe und Hingabe. Sie sang dem kleinen Geschöpf Lieder vor und redete mit ihm und benahm sich überhaupt absolut schwachsinnig, aber was mich am meisten ärgerte, war die Tatsache, daß sie sich, was mich betraf, um überhaupt nichts mehr scherte. Sie war immer wie ein scheues, kleines Hündchen um mich herumgeschlichen und hatte versucht, meine Stimmung, meine Laune auszuloten und sich entsprechend zu verhalten, um keinen Unwillen zu erregen; ein sehr typisches Verhalten für Frauen, die in einem gewaltgeprägten Umfeld groß geworden sind. Nun auf einmal war ihr meine Befindlichkeit gar nicht mehr so wichtig, sie achtete kaum noch auf mich. Sie wachte mit dem Gedanken an das Baby auf und schlief damit ein. Ich erreichte sie nicht mehr. Sie hatte sich mir entzogen.
Ich kam damit ausgesprochen schlecht zurecht, war frustriert und auf gewisse Weise auch verunsichert und hatte den Eindruck, daß unsere Beziehung eine sehr negative Entwicklung nahm. Wer weiß, wie es zwischen uns ausgegangen wäre. Aber dann entschied das Schicksal. Im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft verlor Evelin das Kind.
Ich hatte sie wieder.
Allerdings wurde Evelin mit dem Verlust natürlich nicht fertig. Am Anfang hielt ich das für normal, aber nach einem Jahr war sie noch genauso verzweifelt wie in den ersten Tagen nach der Notoperation, bei der man ihr Leben gerettet hatte und das des Kindes hatte aufgeben müssen. Das Leben mit ihr wurde zunehmend schwieriger und unerfreulicher. Sie heulte noch mehr als früher, versenkte ihren Kummer in Freß- und Einkaufsorgien. Das heißt, sie hockte entweder vor dem Kühlschrank (die Küche hatte sie eingeholt, war wieder ihr bevorzugter Aufenthaltsort geworden) und schaufelte alles in sich hinein, was sie finden konnte, oder sie trieb sich in den besten Boutiquen der Stadt herum und kaufte sich mehr Klamotten, als ein Mensch jemals tragen konnte. Kurz gesagt: Sie wurde fett und teuer. Letzteres störte mich nicht so sehr,
ich verdiene sehr viel Geld, und ich empfinde es als durchaus schmeichelhaft, wenn meine Frau Kleider trägt, denen man ansieht, daß sie ein Vermögen gekostet haben. Was mich sehr viel mehr ärgerte und bis heute ärgert, ist der Verlust von ihrem letzten bißchen Attraktivität. Sie ist vollkommen aus dem Leim gegangen. Ganz gleich, welchen Fummel sie an sich hängt, er macht sie nicht schöner. Sie ist unterwürfig und ergeben und somit nach wie vor ein spannendes Objekt, aber ich bin eben auch ein Mann. Ich würde meine Frau gelegentlich auch einmal gern ansehen.
Ich fange an, mir Sorgen zu machen.
Wie ich bereits schrieb, begann sich Evelin mit dem Verlust des Babys zu verändern, was zunächst vor allem in Äußerlichkeiten sichtbar wurde: das wilde Einkaufen, das hemmungslose Fressen. Natürlich verstärkten sich auch ihre Depressionen, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Aber seit gut einem halben Jahr ist da etwas anderes, etwas, das selbst ich, der ich tief vertraut bin mit jedem nur denkbaren Aspekt der menschlichen Psyche, kaum auszuloten vermag.
Ich würde es vielleicht so beschreiben: Etwas arbeitet in Evelin. Etwas in ihr ist angestoßen worden, ein Gedanke, eine Idee, eine Vorstellung, ein Bild. Dieses Etwas hat sich in Bewegung gesetzt und geht seinen Weg. Möglicherweise kann Evelin es nicht mehr steuern, zumindest kann sie es vermutlich nicht mehr anhalten.
Es ist spürbar. Ich sehe die Veränderung in ihren Augen. Ich höre sie in ihrer Stimme. Ja, fast kann ich sie riechen. Evelin riecht anders. Sie hat immer nach Angst gerochen, was mich ungemein stimuliert hat, aber nun mischt sich etwas Neues in ihren Geruch. Möglicherweise sind es erste Ansätze von Rebellion.
Rebellion und Evelin sind zwei Begriffe, die einander ausschließen, und da beginne ich vielleicht, mich so unwohl zu fühlen. Es gibt Tiere, die, wenn sie anhaltend gequält, ihrer natürlichen Lebensform entrissen und in depressives Erdulden gezwungen werden, ihren Selbstmord planen. Sie beschließen zu sterben, und sie setzen diesen Entschluß mit erstaunlicher Konsequenz um. Sie hören auf zu essen und zu trinken, legen sich in eine Ecke und warten auf den Tod. In all ihrer Unfreiheit, ihrer Entrechtung, ihrer Unterdrückung erobern sie sich damit ihr Recht auf Selbstbestimmung, ja ihre Würde zurück. Instinktiv begreifen sie, daß ihnen in all ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit dieser eine Weg bleibt. Sie triumphieren über ihre Peiniger. Sie berauben sie jeglicher Macht über sie.
Ich glaube, etwas Ähnliches an Evelin zu sehen. Zweifellos verspricht sie sich vom Leben keine Verbesserung mehr, und es mag sein, daß ihre Gedanken eine Richtung einschlagen, die ihr Erlösung und mir eine besondere Qual bringen soll. Mit einem Suizid, so mag sie sich vorstellen, würde sie ihr größtes Problem — das Leben — lösen, und zugleich — und einen derart perfiden Gedanken traue ich ihr bei all ihrer Naivität durchaus zu — würde sie mir einen Schlag versetzen, von dem mich zu erholen ich viele Jahre brauchen würde: Sie entzöge mir die Kontrolle über sich. Sie wäre unerreichbar für mich. Ich müßte in dem Gefühl leben, ein Verlierer zu sein, keine Chance zu haben, die Situation wieder zu meinen Gunsten umkehren zu können. Am Ende hätte sie gewonnen.
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