«Du Armer! Warst du so lang allein? Gleich machen wir einen schönen Spaziergang!«
Bei dem Wort Spaziergang begann Barney auf und ab zu springen. Das Telefon verstummte.
Jessica richtete sich langsam auf, streckte den schmerzenden Rücken. Das Putzen hatte sie angestrengt.
Sie wußte, weshalb sie Angst gehabt hatte, ans Telefon zu gehen: Sie hatte gefürchtet, es könnte Leon sein.
Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank langsam, in kleinen Schlucken. Barney stand vor ihr, sah mit schief gelegtem Kopf zu ihr auf.
«Gleich«, sagte sie.
Sie hatte Leon zwei Nächte zuvor gefragt, weshalb er ihr die Geschichte von Marc erzählt habe, und er hatte geantwortet, er sei der Meinung, sie solle es wissen.
«Ihr habt nie jemandem davon erzählt?«
«Nie. Niemandem. Das hatten wir einander geschworen.«
«Warum nimmst du Alexanders Tod als Anlaß, diesen Schwur zu brechen?«
Er war unsicher gewesen, das hatte sie sehen können. Unsicher, ob er nicht vielleicht das Falsche getan hatte. Immerhin hatte der Tee, von dem er schließlich drei Tassen getrunken hatte, seinen Alkoholspiegel etwas gesenkt. Seine Sprechweise hatte sich gefestigt.
«Du bist zu Alexanders Vater gefahren, um Alexander besser kennenzulernen. So hast du es jedenfalls gesagt. Ich hatte den Eindruck, daß es wichtig für dich ist, ein klares Bild von deinem Mann zu gewinnen. Daß dies… nun, deine Art der Trauer, deine Art der Bewältigung ist. Und deshalb dachte ich, du solltest die Geschichte von Marc kennen. Jene Nacht auf dem Dachboden war das einschneidendste Erlebnis in Alexanders Leben.«
Ihr Kopf hatte gedröhnt, und sie hatte gemeint, eine Fremde sprechen zu hören. Konnte das ihre Stimme sein? So klar und so sachlich?
«Doch wohl nicht nur in Alexanders Leben. In euer aller Leben kann es kaum einen tragischeren Moment gegeben haben.«
Er hatte den nächsten Teebeutel aus der Pappschachtel, die sie inzwischen einfach auf den Tisch gestellt hatte, gefischt, den Deckel der Thermoskanne aufgeschraubt, heißes Wasser in
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seinen Becher gegossen. Er schien sich am Tee förmlich festzuhalten.
«Sicher. Das war es. Aber Alexander war der Auslöser. Tim und ich hätten Hilfe geholt. Wir wären von der Schule geflogen — na und? Es gab andere Schulen. So hätten wir das gesehen.«
«Habt ihr aber nicht.«
Worum geht es mir jetzt eigentlich?
Leon rührte Zucker in seinen Tee. Er rührte, als würde er dafür bezahlt.
«Vielleicht kannst du es dir nicht wirklich vorstellen. Vielleicht kann das niemand, der nicht dabei war. Alexander war… er sah aus, als ginge es um sein Leben. Er hat gezittert. Er war kalkweiß. Er hatte buchstäblich Todesangst. Er hat uns angefleht. Er war…«
Leon zuckte mit den Schultern.»Er ließ uns keine Wahl.«
«Vor euren Augen starb euer Freund!«
«Alexander ließ uns keine Wahl«, hatte Leon wiederholt, und es war dieser Satz, der sich in ihr Gedächtnis gegraben hatte, der sie umtrieb, der in ihr nachhallte.
Er stiehlt sich aus der Verantwortung, dachte sie immer wieder voller Wut, und Tim spricht er auch gleich mit frei. Wie schön. Wie bequem. Und wer sagt mir überhaupt, daß die Geschichte so stimmt?
Niemand. Nur sie selbst. Alles, was sie über Alexander wußte, bestätigte ihr, daß sich jene verhängnisvolle Nacht so zugetragen haben mußte, wie Leon es erzählt hatte. Es paßte zu dem, was sie über seinen Vater wußte. Es erklärte seine nächtlichen Albträume.
Es war absolut stimmig.
Sie wünschte, sie hätte nie davon gehört.
Sie wollte sich gerade ein zweites Glas Wasser einschenken, als das Telefon erneut klingelte. Sie beschloß, es zu ignorieren, und nach einer Weile hörte es auf, aber nur, um eine Minute später erneut einzusetzen. Irgend jemand schien sie sehr dringend erreichen zu wollen.
Wenn es Leon ist, lege ich einfach sofort auf, dachte sie und nahm den Hörer ab.
«Ja?«fragte sie mit bewußt schroffer Stimme.
Es war nicht Leon. Sondern Evelin.
Es war nicht so einfach gewesen, mit Evelin zu sprechen. Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte minutenlang hemmungslos geschluchzt.
«Beruhige dich doch«, hatte Jessica immer wieder gesagt.»Evelin, es ist alles gut. Du mußt nicht weinen!«
Endlich hatte Evelin sprechen können.»Ich hatte Angst. Ich habe es den ganzen Nachmittag bei dir versucht. Ich dachte, die Nummer stimmt vielleicht nicht mehr…«
Ihre Stimme zitterte.
«Alles okay. Ich bin nur eben erst nach Hause gekommen. Ich war in der Praxis.«
«Am Samstag?«
«Die Praxis war die ganze Zeit geschlossen. Ich fange erst am Montag wieder an. Ich habe saubergemacht.«
Evelin hatte sich einigermaßen gefaßt.»Entschuldige, daß ich eben die Beherrschung verloren habe. Es ist nur… ich weiß, ich kann das eigentlich nicht verlangen, aber… könntest du hierherkommen? Nach England?«
«Nach England? Jetzt? Was ist denn passiert?«
«Ich darf hier nicht weg. Die haben meinen Paß. Ich brauche Geld. Und ich bin unfähig, es hier allein auszuhalten. Meinst du nicht, du könntest kommen?«
«Evelin, bitte, der Reihe nach. Ich verstehe kein Wort. Wo genau bist du?«
«Ich bin in Stanbury. Ich habe ein Zimmer im The Fox and the Lamb genommen. Die haben mich aus dem Gefängnis entlassen, aber ich muß mich noch zur Verfügung halten, wie sie sagen. Ich habe überhaupt kein Geld, und…«
«Das könnte ich dir ja auch überweisen. Aber wieso haben die dich…«
«Nein, bitte, du mußt kommen. Ich drehe durch. Jessica, wirklich, ich drehe hier einfach durch!«
Sie kämpfte schon wieder mit den Tränen.
Jessica dachte an die Annonce in der Zeitung und ihren. Rundbrief an die Patienten der Praxis. Schöner Mist!
«Wieso haben die dich rausgelassen? Haben die…«, ihr Herz begann plötzlich wild zu hämmern bei diesem Gedanken,»haben die etwa den Täter gefaßt?«
«Kommst du?«
«Ja. Beruhige dich. Ich komme. Aber sag mir endlich…«
«Mein Anwalt hatte gestern noch mal einen Haftprüfungstermin angesetzt.«
Nachdem sie die Zusage erhalten hatte, daß Jessica herbeieilen würde, beruhigte sich Evelin.»Er hatte mir schon gesagt, daß sie mich vermutlich würden rauslassen müssen, weil sie ja noch immer nur mit dünnen Indizien herumhantieren, und da hatte sich auch noch nichts bestätigt. Aber dann wurde es noch einfacher als gedacht. Mein Anwalt hat erfahren, daß Phillip Bowen seit dem späten Donnerstagabend mit Haftbefehl gesucht wird. Sein Alibi war falsch, und irgendwie ist das aufgeflogen. Er ist untergetaucht. Es scheint ziemlich sicher, daß er es war.«
Wie Leon gesagt hatte. Von Anfang an. Jessica merkte, daß ihr Mund trocken wurde, daß sie sich schwindlig fühlte. Ein falsches Alibi. Sie konnte Superintendent Normans Stimme hören:»Er war den ganzen Nachmittag mit Geraldine Roselaugh zusammen.«
Und Leon darauf:»Die würde für ihn doch das Blaue vom Himmel herunterlügen!«
Offensichtlich hatte er recht gehabt.
«Auf jeden Fall«, fuhr Evelin fort,»besteht gegen mich kein dringender Tatverdacht mehr. Aber sie haben meinen Paß noch einbehalten. Sie wollen im Moment nicht, daß ich England verlasse. Aber mir geht es schlecht, Jessica, wirklich schlecht. Ich bin so verzweifelt und allein. Das Gefängnis war… die Hölle, ein Alptraum. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich…«
«Ich habe dir doch gesagt, ich komme. Paß auf, ich werde versuchen, für morgen einen Flug zu buchen, okay? Bis zum Abend bin ich in Stanbury. So lange kannst du durchhalten, ja?«
Evelin war offenbar psychisch in einem desolaten Zustand, was, wie Jessica fand, nicht ungewöhnlich war, wenn ein Mensch vier Wochen lang unter Mordverdacht im Gefängnis festgehalten worden war. Sie schien ständig Mühe zu haben, ihre Fassung zu wahren.
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