Marc war für seine gesamte Schulzeit vom Sportunterricht befreit. Es hing mit den Erstickungsanfällen zusammen, denen er als Kind immer wieder ausgesetzt gewesen war und die sich, wie er und seine Mutter unter Berufung auf die Ärzte behaupteten, bei erhöhter körperlicher Anstrengung wiederholen konnten.
«Ich war früher ein paarmal mit dem Notarztwagen im Krankenhaus«, hatte er erzählt,»weil ich überhaupt keine Luft mehr bekam und schon blau im Gesicht war.«
Man hatte seine Schilderungen zur Kenntnis, aber nicht wirklich ernst genommen.
Als er nun plötzlich nach Luft zu schnappen begann, drehten sich alle fast erstaunt zu ihm hin.
«Hast du auch Halsweh?«fragte Leon.
Was jedoch bei Alexander ein kurzes, kratziges Husten gewesen war, klang bei Marc außerordentlich bedrohlich. Er ließ seine Zigarette fallen, reckte den Kopf hoch und rang nach Atem. Er japste und schnaufte, und aus seiner Brust drang ein rasselndes, erschreckendes Geräusch.
Die Jungen bekamen Angst, auch wenn noch keiner es vor den anderen zugeben wollte. Tim, der am nächsten saß, reckte das Bein und trat Marcs glimmende Zigarette aus, damit nicht noch die Holzwände Feuer fingen.
«Komm, Marc, krieg dich ein«, sagte er barsch.»Soll ich dir mal kräftig auf den Rücken hauen? Vielleicht geht's dann wieder!«
Marc antwortete nicht, sondern schnappte verzweifelt nach Luft.
«Das ist ein Asthmaanfall«, meinte Alexander ängstlich.
Leon stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Seine Zigarette war bis an seine Fingerkuppe heruntergebrannt, ohne daß er es bemerkt hatte. Er warf sie auf den Boden und trat sie aus. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Marc rutschte von der alten Apfelsinenkiste, auf der er gesessen hatte, und wand sich auf den Dielen. Trotz der schwachen Beleuchtung konnte man erkennen, daß sich sein Gesicht dunkel zu verfärben begann.
«O Gott«, rief Alexander leise.
Es mochten Sekunden oder Minuten sein, in denen sie alle wie gebannt auf ihren Freund starrten, der erfolglos um Atem kämpfte und sich anhörte wie ein verendendes Tier.
Leon bewegte sich als erster wieder.
«Wir müssen sofort einen Notarzt rufen. Er hatte als Kind doch solche Anfälle, und da konnte ihm auch der Notarzt helfen!«
«Nicht so laut!«zischte Alexander.»Willst du das ganze Haus aufwecken?«
«Ich glaube kaum, daß wir den Notarzt rufen können, ohne daß alle aufwachen«, entgegnete Leon. Alexander griff nach seinem Arm.
«Hör mal, weißt du, was dann passiert? Wir fliegen alle von der Schule. Die wissen doch dann, daß wir hier geraucht haben!«
Leon starrte ihn an.»Aber wir können doch nicht…«
Marcs Körper bäumte sich, von Krämpfen geschüttelt, auf. Er schlug mit den Armen um sich, stieß dabei an einen dreibeinigen Stuhl, der mit einigem Getöse umfiel.
Tim, der am ruhigsten schien, meinte:»Ich fürchte, bis der Arzt da ist, ist es zu spät.«
«Da hörst du es!«
Alexander war schneeweiß im Gesicht. Er zitterte.»Der Arzt kann ihm nicht mehr helfen, aber wir müssen die Schule verlassen.«
Marc röhrte wie ein Hirsch. Leon wühlte in seinen Haaren.»Er kriegt kaum Luft, aber er lebt doch noch«, sagte er verzweifelt.»Was ist, wenn sich das noch eine Stunde hinzieht?«
«Das zieht sich keine Stunde mehr hin«, meinte Tim.
Alexanders Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Leons Arm.»Leon, bitte! Du weißt, ich wollte das hier nicht! Aber ich bin der, der am bittersten bezahlen muß. Mein Vater…«
«Ja? Was denn? Was kann er denn tun?«
«Wenn ich von der Schule fliege, dann… ihr habt doch keine Ahnung! Er verachtet mich. Ich bin die letzte Scheiße für ihn. Es gibt doch schon kaum noch etwas, das er akzeptiert an mir. Aber das hier… das ist eine Eliteschule. Wenn ich die schaffe… o Gott, versteht mich doch!«
Er schluchzte fast.»Wenn ich hier rausfliege, bin ich lebenslang der arme kleine Idiot, den er immer in mir gesehen hat!«
«Aber deswegen können wir Marc doch nicht verrecken lassen!«sagte Leon außer sich. Er dachte, daß dies eine unerträgliche Debatte war, auf die sich keiner von ihnen hätte einlassen dürfen. Vor allem er nicht. Ohne daß dies je ausdrücklich festgelegt worden wäre, bekleidete er eine Art Anführerposition in der Gruppe. Man hörte auf ihn. Er war in der Lage, Situationen zu entscheiden.
Alexander zitterte inzwischen wie Espenlaub. Von Marc erklang nur noch ein sehr leises, sehr schwaches Röcheln. Leon dachte später, daß dies den Ausschlag gegeben hatte: dieses unsagbar schwache Röcheln.
«Sammelt eure Zigaretten ein«, sagte er,»und die Aschenbecher. Rückt die Kisten und Stühle weg, auf denen ihr gesessen habt.«
Die anderen begriffen, ohne daß er es aussprach: Es sollte so aussehen, als sei Marc allein hier oben gewesen.
Lautlos und schnell hatten sie alle Spuren beseitigt. Die Decken, die sie sich zum Schutz gegen die Kälte umgelegt hatten, und der schwarze Fellmantel waren an ihren alten Plätzen verstaut.
Die Stühle weggeräumt. Die Kippen verschwunden. Lediglich die Kiste, auf der Marc gesessen hatte, stand noch da, davor ein Unterteller, der ihm als Aschenbecher gedient hatte, und zwei Kerzen, die mit Wachs am Boden befestigt waren. Marc selbst gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht mehr. Keiner sah ihn an. Sie taten so, als wäre er gar nicht da. Alexander zitterte noch immer und kauerte, in sich zusammengesunken, neben der Leiter, die nach unten führte.
Leon blies die Kerzen aus. Der Dachboden versank in Dunkelheit.
«Das geht so nicht«, meinte Tim.»Man wird sich wundern, weshalb… er«, er war nicht in der Lage, Marc beim Namen zu nennen,»weshalb er die Kerzen noch löschen konnte, ehe er… sein Asthma bekam.«
«Aber wenn wir sie runterbrennen lassen, fackelt am Ende das ganz Haus ab«, widersprach Leon.»Man könnte doch auch denken, die Kerzen sind durch den Luftzug erloschen.«
Sie beließen es dabei. Einer nach dem anderen kletterten sie schweigend und wieselflink die Leiter hinunter. Sie endete auf einem schmalen Flur im obersten Stockwerk. Hier schlief niemand, hier gab es nur ein paar Kammern, in denen Bettwäsche, Tischtücher und Servietten gelagert wurden. Eine Wendeltreppe führte zu den Gängen, auf denen sich die Schlafräume befanden.
«Die Leiter bleibt natürlich unten«, wisperte Leon.
«Was machen wir mit den Kippen, der Asche und den Kerzen?«fragte Alexander, der erst jetzt seine Sprache wiederfand. Es gab keine Beleuchtung als die des durch die Fenster einfallenden Mondes, aber selbst darin ließ sich erkennen, daß Alexander aussah wie der Tod.
«Gebt alles mir«, sagte Leon. Es war wie immer: Er steckte schon wieder in der Führungsrolle und fühlte sich verantwortlich, daß nun alles funktionierte.»Ich werfe das Zeug morgen in der Stadt in irgendeinen Mülleimer. Aber los jetzt. Wir müssen in unsere Betten!«
Sie hatten eine Entscheidung getroffen, von der es nun kein Zurück mehr gab. Für ein paar Sekunden sahen die drei Jungen einander an.
«Danke«, sagte Alexander leise.
Dann huschten sie die Wendeltreppe hinunter. Die Nacht war still, nirgends ein Laut zu hören.
Niemand war aufgewacht.
Samstag, 24. Mai — Dienstag, 27. Mai
Das Telefon klingelte, als Jessica die Haustür aufschloß. Es war fünf Uhr am Nachmittag, und sie war müde. Sie war den ganzen Tag über in der Praxis gewesen, hatte geputzt und Staub gewischt, vertrocknete Grünpflanzen entsorgt und neue entlang der Fenster aufgestellt, die alten Zeitschriften aus dem Wartezimmer durch aktuelle Ausgaben ersetzt. Es war Samstag, und die Praxis erstrahlte in neuem Glanz. Nichts stand der Wiedereröffnung am Montag im Weg.
Barney wartete schon hinter der Tür und begrüßte sie stürmisch, sprang an ihr hoch, jagte dann mit fliegenden Ohren den Flur entlang, kehrte mit einem Stoffbären im Maul zurück und hüpfte wieder an ihr hoch. Sie kauerte sich nieder, drückte ihn an sich.
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