«Ja. Aber sei so schnell wie möglich da. Bitte!«
Nachdem Jessica dies noch einmal versichert und dann das Gespräch beendet hatte, machte sie ihren Spaziergang mit Barney und dachte, daß sie Evelins Hilferuf wirklich im unpassendsten Moment ereilt hatte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Leon zu bitten, an ihrer Stelle zu fliegen, denn schließlich hatte er im Moment nichts zu tun und war der Frau seines toten Freundes mindestens so verpflichtet wie sie. Aber sie wußte, daß Evelin dies als Verrat empfinden würde. Sie wollte jetzt eine Frau an ihrer Seite, keinen Mann, und schon gar keinen wie Leon.
Als sie zurückkam, hörte sie das Telefon erneut bereits klingeln, als sie an der Haustür war. Diesmal beeilte sie sich.
Wenn es Leon ist, dann nehme ich das als Zeichen. Dann soll er fliegen.
Aber wiederum war es nicht Leon. Es war Elena, und sie klang fast genauso aufgelöst wie zuvor Evelin.
«Jessica, Ricarda ist verschwunden! Ich rufe gerade bei allen Bekannten an. Ist sie vielleicht bei Ihnen?«
«Mir war völlig klar, daß du einen Rückzieher machen würdest, zumindest mental«, erklärte Lucy.»Aber glücklicherweise kannst du ihn diesmal nicht umsetzen. Du hast Phillip angezeigt. Du…«
«Ich habe ihn nicht angezeigt«, unterbrach Geraldine,»ich habe lediglich Superintendent Norman angerufen und ihm gesagt, daß Phillips Alibi nicht stimmt. Das ist nicht das gleiche wie anzeigen!«
«Es läuft aber auf das gleiche hinaus. Phillip wird dir nie verzeihen, und ich danke Gott, daß es so ist! Lieber Himmel, Geraldine, du kannst diesem Typen doch nicht noch ernsthaft hinterhertrauern!«
Sie saßen in Geraldines schicker Wohnung in Chelsea, tranken Sekt und hatten die Wohnzimmerfenster weit geöffnet, um die warme Luft des Frühlingsabends hereinströmen zu lassen. Es war ein herrlicher Tag gewesen, schon ganz sommerlich, und Lucy hatte vorgeschlagen, in einem der Parks spazierenzugehen oder hinaus aufs Land zu fahren.
«Du sitzt seit Donnerstag abend hier in der Wohnung und heulst und grübelst. Das tut dir nicht gut. Laß uns ein bißchen in der Sonne laufen.«
«Ich gehe nicht hinaus. Schau mich doch an!«
Von Geraldines langen, glänzenden Haaren waren nur schief abgeschnittene Stoppeln geblieben, die sie noch dazu seit jenem Abend nicht mehr gewaschen oder auch nur gekämmt hatte. Ebensowenig wie sie sich duschte und anzog. Sie trug ein verschwitztes, fleckiges Nachthemd — das bißchen Essen, das sie sich überhaupt zubereitet hatte, schien sie zum größten
Teil über den hellen Baumwollstoff verteilt zu haben, so schien es Lucy jedenfalls —, hatte verquollene Augen und eine unschön gerötete, von den vielen Tränen gereizte Haut. Sie hatte Lucy am Tag nach dem Streit — wobei das Wort Streit im Grunde zu klein war für das Ausmaß des Vorkommnisses — angerufen, nachdem sie mit Superintendent Norman telefoniert und ihm alles erzählt hatte. Er hatte sie gebeten, zu einem Londoner Polizeirevier zu gehen — er hatte ihr die Adresse genannt sowie den Namen eines Sergeant dort — und ihre Aussage protokollieren zu lassen. Er werde alles arrangieren, und man werde sie dort erwarten.
Geraldine, die sich außerstande gesehen hatte, diesen Gang allein zu bewältigen, hatte Lucy zu sich gebeten, die einen Ausruf des Entsetzens nicht hatte unterdrücken können, als sie den verstümmelten Haarschnitt ihres einst am besten vermittelbaren Models gesehen hatte.
«Um Gottes willen! Was hast du denn gemacht?«
Es war nicht ganz leicht für Lucy gewesen, die wirre, unter heftigen Tränen hervorgebrachte Geschichte Geraldines zu begreifen, und als sie endlich verstanden hatte, war sie von einem fast ungläubigen Grauen erfaßt worden.
«Er ist ein Verbrecher! Ein Massenmörder! O Himmel, Geraldine, ist dir klar, in welcher Gefahr du die ganze Zeit geschwebt hast? Daß er nicht ganz normal ist, habe ich ja schon immer gesagt, aber daß er… verdammt, mir wird richtig schlecht, wenn ich mir vorstelle…«
Geraldine hatte sie unterbrochen.»Ich weiß nicht, ob er… es getan hat. Er hat Stein und Bein geschworen, daß er es nicht war. Er…«
«Und wozu hat er dann ein falsches Alibi gebraucht? Ich bitte dich, Geraldine, ein Mensch mit einem guten Gewissen hat doch solch abenteuerliche Konstruktionen nicht nötig! Ich frage mich, wie du dich dafür hergeben konntest. Ist dir nicht
klar, daß du dich damit strafbar machst? Ganz abgesehen davon — wie konntest du denn ernsthaft noch immer eine Zukunft planen mit einem Mann, der fünf Menschen einfach abgestochen hat? Wie konntest du noch ernsthaft Kinder mit ihm haben wollen? Wie konntest du…«
Geraldine war unter dem Maschinengewehrfeuer von Lucys Tiraden zu einem Häufchen Elend zusammengesunken und hatte irgendwann nur leise gefragt:»Kommst du mit zur Polizei?«
«Natürlich komme ich mit. Und sei es nur deshalb, um sicherzustellen, daß du deine Aussage nicht in letzter Minute widerrufst! Denn das wäre dir zuzutrauen, wie ich dich kenne. Großer Gott, wenn ich mir vorstelle, daß auch ich noch in der Wohnung dieses Monsters war…«
Wie in Trance hatte Geraldine ihre Aussage zu Protokoll gegeben, alles hatte ziemlich lange gedauert, aber sie hatte Kaffee und Mineralwasser, die man ihr anbot, abgelehnt, weil ihr zu übel war, als daß sie auch nur hätte trinken können.
Immerhin machte ihr niemand einen Vorwurf oder sprach das Thema an, ob sie wegen ihres Verhaltens in naher Zukunft mit juristischen Konsequenzen zu rechnen hätte. Man schickte sie jedoch — natürlich — mit der obligatorischen Auflage, sich jederzeit zur Verfügung zu halten, nach Hause. Lucy war sofort klar, daß dies zunächst eine Reihe von Problemen in Geraldines Beruf mit sich bringen würde. Allerdings war Geraldine wohl in der nächsten Zeit ohnehin nicht einsetzbar, was weniger an ihrem verunglückten Haarschnitt lag als an ihrer depressiven Stimmung und dem Ausdruck schwärzester Hoffnungslosigkeit in ihren Augen. Als sie das Polizeirevier endlich hatten verlassen dürfen, hatte Lucy vorgeschlagen, irgendwo zusammen einen Kaffee zu trinken und dann Geraldines Friseur aufzusuchen.
«Wir müssen etwas mit deinen Haaren unternehmen. So können sie nicht bleiben. Bruno bringt das sicher in Ordnung.«
Bruno war der schwule Friseur aus der South Kensington Road, der für die meisten Models aus Lucys Agentur zuständig war.»Wir machen einfach einen neuen Typ aus dir. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Langhaarig, mädchenhaft, verträumt warst jetzt über viele Jahre. Ich könnte mir vorstellen, du siehst mit kurzen Haaren viel jünger und frecher aus.«
Aber Geraldine war nicht zu bewegen gewesen, weder zum Kaffeetrinken noch zu einem Friseurbesuch, und Lucy hatte schließlich nachgegeben und sie heimgebracht. Am heutigen Samstag war sie wieder zu ihr geeilt und hatte sie erneut in einem Zustand völliger Apathie angetroffen. Nachdem alle ihre Bemühungen, Geraldine zu einem Spaziergang zu überreden, gescheitert waren, hatte sie schließlich einen Vorrat an Sektflaschen aus dem Keller geholt und kalt gestellt und nun am Abend die erste geöffnet. Tatsächlich schien der Alkohol Geraldine ein wenig zu entspannen. Sie war zumindest wieder ansprechbar.
«Weißt du, Lucy«, sagte sie nun,»ich bin im tiefsten Inneren davon überzeugt, daß Phillip niemanden ermordet hat. Ich kann dir nicht erklären, warum, aber da ist in mir…«
Lucy unterbrach sie mit einem unwilligen Schnauben.»Sei mir nicht böse, Geraldine, aber du wirst zugeben müssen, daß man dich kaum als eine Person ansehen kann, die auch nur im entferntesten geeignet ist, Phillip Bowen einigermaßen objektiv zu beurteilen. Dieser Mann hat dich jahrelang wie einen Fußabstreifer behandelt und deine Gefühle ausgenutzt, und du hast dich treten lassen und bist trotzdem immer wieder angekrochen gekommen. Wie ich dir schon oft erklärt habe, weist das auf eine gefährliche psychische Abhängigkeit hin, für deren Auflösung du vermutlich sogar therapeutischer Hilfe bedürftest. Das heißt, auch jetzt, nachdem er dir das angetan hat«, sie wies auf Geraldines verstümmelte Haare,»kannst du nicht aufhören, dich nach ihm zu verzehren, und natürlich träumst du insgeheim immer noch davon, daß er zu dir zurückkommt, daß ihr euch versöhnt und alles wieder gut wird.«
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