Sie stieß die schwer mit Schnee beladene Gartenpforte auf.
Vor der Haustür stand Robert inmitten eines Berges von Gepäck. Er hatte sich seinen Schal vor das Gesicht gezogen, trampelte von einem Fuß auf den anderen, rieb seine Hände gegeneinander.
«Guter Gott!«Seine Stimme klang dumpf unter der Wolle hervor.»Wo warst du? Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr! Schließ bloß schnell die Tür auf, ich bin schon fast erfroren. O bitte, Leona, schau nicht drein, als sei dir ein Geist erschienen. Schließ die Tür auf!«
Erst nach einer Weile begriff Robert, daß Leona wirklich böse auf ihn war. Er hatte seine zwei Koffer und seine Tasche im Flur stehengelassen und fünf prallvolle Plastiktüten in die Küche geschleppt, sie auf den Tisch gewuchtet und mit dem Auspacken begonnen.
«Spaghetti. Olivenöl. Pesto. Rotwein«, zählte er auf.»Alles direkt aus Italien. Für dich! Weißt du was? Ich sterbe vor Hunger! Wie wäre es, wenn ich für uns beide eine gigantische Spaghettimahlzeit kochte?«
Leona war ihm gefolgt, lehnte in der Tür. Sie betrachtete ihn: Er sah gesund aus, fröhlich. Auf seinen dunklen Haaren schmolz der Schnee.
«Ich komme gerade von einem mehrgängigen Menü«sagte sie.»Du mußt schon für dich allein kochen.«
«Schade. Wo warst du denn?«
Er sah sie unbefangen an. Sie hatte sich noch immer nicht von ihrer Überraschung erholt, aber langsam kam sie zu sich.
«Wo ich war?«Ihre Stimme bebte vor Empörung.»Vielleicht könntest du mir erst einmal erklären, wo du warst?«
«In Italien. Da habe ich ja all die Sachen gekauft.«
«In Italien? Du wolltest nach Ascona! Du hattest mir gesagt, daß…«
«Schatz, ich war ja auch in Ascona. Ich habe mir Wäsche, Kleider, Arbeitsunterlagen geholt. Aber dann mußte ich noch nach Mailand zu einem Verlag, für den ich öfter Übersetzungen anfertige. Es gab viel zu besprechen, eine Menge Arbeit… und dann habe ich noch kurz einen Freund in Rom besucht… Himmel, Leona, was ist denn los? Du siehst ziemlich wütend aus.«
Sie explodierte. Schlimm genug, daß er sich drei Wochen lang nicht bei ihr gemeldet hatte, aber nun setzte er all dem noch die Krone auf, indem er gar nicht kapierte, was los war, hier hereinspaziert kam, als sei nichts gewesen, und auch noch anerkennungheischend seine Nudeln und sein Olivenöl auspackte.
«Ziemlich wütend? Ich sehe ziemlich wütend aus? Ich bin sauwütend, Robert, das kann ich dir nur sagen. Was hast du dir eigentlich gedacht? Fährst für ein oder zwei Tage nach Ascona, um nach dem Rechten zu sehen und deine Sachen zu holen, und tauchst dann für zwei Wochen unter! Zwei Wochen! Kein Lebenszeichen von dir, nichts! Gab es keine Telefone in Italien? Keine Möglichkeit für dich, mich anzurufen? Es hätte dich eine Minute gekostet, mir zu erklären, daß dir ein paar Dinge dazwischengekommen sind und daß sich deine Rückkehr verzögert. Kein Problem. Aber du kannst doch nicht einfach nichts sagen!«
Sie war laut geworden in ihrem Zorn. Robert stand mit hängenden Armen vor ihr. Er schien nicht zu wissen, was er erwidern sollte.
Sie ging zum Tisch, fegte mit einer heftigen Bewegung all die Nudelpackungen hinunter auf den Boden.»Kommst hier mitten in der Nacht einfach reingeschneit und meinst, alles ist in Ordnung! Was glaubst du, was mit mir war in den letzten Wochen? Hast du dir das schon einmal überlegt?«
Er sagte immer noch nichts.
«Ich habe mir Sorgen gemacht um dich! Dir hätte ja auch etwas zugestoßen sein können. Mich würde doch kein Mensch benachrichtigen. Ich würde es nie erfahren.«
Er hatte auf den Boden gestarrt, auf die schönen, alten Steinfliesen, die Leonas ganzer Stolz waren. Jetzt hob er den Kopf.
«Es tut mir leid«, sagte er leise.
Leona ließ sich auf einen der Stühle fallen. Plötzlich fühlte sie sich sehr erschöpft.»So geht das nicht«, murmelte sie.
Erschrecken malte sich auf seine Miene.
«Was meinst du? Mit uns geht es so nicht? Du willst Schluß machen?«
«Ich weiß nicht. Auf jeden Fall kannst du nicht einfach sagen, es tut dir leid, und damit ist alles in Ordnung. Du mußt mir erklären, was in dir vorgegangen ist. Was du dir gedacht hast!«
«Nichts«, sagte er schlicht,»ich glaube, ich habe gar nichts gedacht.«
Sie merkte, wie schon wieder die Wut in ihr hochkochte.
«Und das ist in deinen Augen eine Entschuldigung? Du hast eben gar nichts gedacht, und damit ist es in Ordnung?«
«Ich habe mich entschuldigt.«
«Du hast mir nichts erklärt.«
Er machte eine hilflose Handbewegung.
«Vielleicht… hatte ich irgendwie eine andere Vorstellung. Nicht so von Telefonieren, Anmelden, Abmelden…«
Er brachte es fertig, daß sie sich auf einmal elend fühlte. Spießig. Kleinkariert. Klammerte sie schon zu sehr? Verfiel sie genau in das Fehlverhalten, in das Menschen gerieten, wenn ihr Tun und Lassen nicht mehr von Vernunft und Selbstbewußtsein bestimmt wurde, sondern von Angst und Verletztheit? Der sicherste Weg, einen anderen Menschen zu verlieren…
«Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte sie schwach. Sie hatte vorgehabt, ihn hinauszuwerfen. Aus diesem Haus, aus ihrem Leben. Sie fühlte, daß sie die Kraft dazu nicht finden würde.
Er war sofort neben ihr, ihre Schwäche und seine daraus resultierende Chance witternd, und nahm ihre Hände. Er zog sie vom Stuhl hoch, so daß sie dicht vor ihm zu stehen kam.
«Es passiert nicht mehr, Liebste«, flüsterte er,»ich schwöre, es passiert nicht mehr. Gott, wie habe ich dir das antun können! Natürlich hast du dir Sorgen gemacht. Ich bin ein Egoist, daß ich daran nicht gedacht habe…«
Seine Worte tropften wie Balsam auf ihre wunde Seele. Seine Küsse lösten die Starre, in der sie ihre Wut aufrechtzuerhalten gesucht hatte. Die Erinnerung an die Einsamkeit der letzten Wochen überschwemmte sie. Sie wollte ihn nicht verlieren.
«Ich mach’ dir was zu essen«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf, lächelte.
«Ich habe eine viel bessere Idee. «Sie schloß die Augen.
Am vierundzwanzigsten Dezember fuhren sie in Leonas Auto nach Lauberg, in das Heimatdorf Leonas, und dort wurde die überraschte Familie mit zwei Neuigkeiten konfrontiert: mit der Tatsache, daß Leona seit drei Monaten von Wolfgang getrennt lebte, und mit der frohen Botschaft, daß es bereits einen neuen Mann an ihrer Seite gab, Robert, den sie nun auch gleich allen vorstellte. Sie konnte sehen, daß ihre Eltern entsetzt waren über die Trennung von Wolfgang, aber aus Gründen des Taktes mußten sie ihre Kommentare zurückhalten, da sie ihre Verstörtheit natürlich nicht vor Robert zeigen durften.
Erst am Abend, kurz vor der Bescherung, erwischte Elisabeth ihre Tochter allein.
«Warum hast du denn nie etwas gesagt? Seit drei Monaten…«
«Seit dem einundreißigsten August.«
«Ihr wart schon getrennt, als du im September hier warst? Deshalb kam er also nicht mit. Warum hast du uns da belogen?«
«Ich habe euch nicht belogen. Ich konnte nur damals noch nicht darüber sprechen.«
Leona merkte, daß ihre Mutter verletzt war. Sie legte den Arm um ihre Schultern.
«Mami, versteh das doch bitte! Ihr hättet mich alle bemitleidet und euch Sorgen gemacht. Das wäre alles noch viel schlimmer für mich gewesen.«
«Ich hätte nie gedacht, daß es so weit kommen könnte«, murmelte Elisabeth,»du und Wolfgang auseinander… es ist so unfaßbar!«
Glaubst du, für mich nicht? hätte Leona gern gefragt, aber sie schluckte die Bemerkung hinunter. Keine Gereiztheit,ermahnte sie sich, sie ist verstört genug.
«Woher kennst du deinen neuen Verehrer?«fragte Elisabeth, und das altmodische Wort klang eigenartig, wenn man die Intensität bedachte, die ihrer beider Beziehung inzwischen erlangt hatte. Leona hatte beschlossen, nicht zu erwähnen, daß ihre Begegnung mit Robert in Zusammenhang mit dem Selbstmord seiner Schwester stand.
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