Charlotte Link
Die Rosenzüchterin
Manchmal konnte sie Rosen einfach nicht mehr sehen. Dann meinte sie, ihre Schönheit nicht länger ertragen zu können, den Anblick ihrer samtigen, bunten Blüten, den Hochmut, mit dem sie sich der Sonne entgegenreckten, als seien die warmen Strahlen nur für sie bestimmt und für niemanden sonst. Rosen konnten empfindlicher sein als die sprichwörtlichen Mimosen; einmal war es ihnen zu naß, dann zu kalt, zu windig oder zu heiß; sie ließen oft aus unerfindlichen Gründen die Köpfe hängen und vermittelten den Eindruck, als schickten sie sich zum Sterben an, und es kostete Mühe, Kraft und Nerven, sie daran zu hindern. Dann wieder, ebenso unerklärbar, bewiesen sie eine unerwartete Zähigkeit, behaupteten sich gegen harsche Witterung und unsachgemäße Behandlung, blühten, dufteten und wuchsen. Sie machten es niemandem leicht, der mit ihnen zu tun hatte.
Ich sollte, dachte sie, auf Rosen nicht so aggressiv reagieren. Das ist albern. Und unangemessen.
Sie hatte vierzig Jahre ihres Lebens der Rosenzucht gewidmet, aber sie hatte nie eine wirklich glückliche Hand für diese Blumen gehabt. Vermutlich lag das daran, daß sie sie nicht mochte und eigentlich immer etwas anderes hatte tun wollen. Ihr waren ein paar einigermaßen interessante Kreuzungen gelungen, Teehybriden vor allem, denn wenn überhaupt, so konnte sie diesem Rosentyp noch am ehesten etwas abgewinnen. Sie vereinten Eleganz mit einer gewissen Härte und Festigkeit — und verkauften sich gut. Irgendwie war es ihr stets gelungen, das Auskommen ihrer kleinen Familie zu sichern, aber oft hatte sie gedacht, daß sie, käme plötzlich eine gute Fee mit einem Goldschatz daher, nie wieder im Leben eine Rose anfassen würde.
Manchmal, wenn sich Beatrice Shaye mit der Erkenntnis konfrontierte, daß sie Rosen weder mochte noch wie eine wirkliche Expertin mit ihnen umzugehen verstand, fragte sie sich, was eigentlich ihrem Herzen nahe stand. Sie mußte sich von Zeit zu Zeit vergewissern, daß es da noch etwas gab, denn die Erkenntnis, ihr Leben einer Tätigkeit und einem Objekt gewidmet zu haben, das ihr so wenig Sympathie abringen konnte, stimmte sie manchmal traurig und ließ sie grübelnd nach einem Sinn suchen. Dabei hatte gerade sie sich stets zynisch über Sinnsucher geäußert. Den Sinn des Lebens hatte sie immer mit dem Begriff Überleben erklärt — überleben in einer schlichten, undramatischen Bedeutung. Überleben hieß, das Notwendige zu tun: aufstehen, die Arbeit verrichten, die getan werden mußte, essen, trinken, zu Bett gehen und schlafen. Alles andere war schmückendes Beiwerk: der Sherry, der wie helles Gold in den Gläsern funkelte. Musik, die durch den Raum toste, das Herz schneller schlagen und das Blut leichter fließen ließ. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ein Sonnenuntergang über dem Meer, drüben am Pleinmont Tower, der unmittelbar an die Seele rührte. Eine Hundeschnauze, feucht und kalt und stürmisch, im Gesicht. Ein warmer, stiller Sommertag, der nur durchbrochen wurde in seiner Ruhe von den Schreien der Möwen und dem leisen Rauschen der Wellen in der Moulin Huet Bay. Heißer Fels unter nackten Füßen. Der Duft der Lavendelfelder.
Eigentlich stellten diese Dinge die Antwort auf ihre Frage dar: Sie liebte Guernsey, ihre Heimat, die Insel im Ärmelkanal.
Sie liebte St. Peter Port, die malerische Hafenstadt an der Ostküste. Sie liebte die Narzissen, die im Frühjahr an allen Wegrändern blühten, liebte die wilde, blaue Hyazinthe, auf die man in den lichtdurchfluteten, hellen Wäldern stieß. Sie liebte den Klippenpfad hoch über dem Meer, besonders den Teil, der vom Pleinmont Point zur Petit Bôt Bay führte. Sie liebte ihr Dorf Le Variouf, liebte ihr steinernes Haus, das ganz hoch am oberen Dorfrand lag. Sie liebte sogar die Wunden der Insel, die häßlichen Wachtürme der ehemaligen Befestigungsanlage, die von den deutschen Besatzern gebaut worden war, das trostlose, in Granit geschlagene» German Underground Hospital«, das die Zwangsarbeiter damals hatten bauen müssen, und die Bahnhöfe, die die Deutschen hatten vergrößern lassen, um das Material zum Bau ihres Westwalls transportieren zu können. Zudem liebte sie manches an dieser Landschaft, auf dieser Insel, was niemand außer ihr sah und hörte: Erinnerungen an Bilder und Stimmen, an Momente, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Erinnerungen an über siebzig Jahre Leben, die sie fast ausschließlich hier verbracht hatte. Vielleicht stand einem Menschen nahe, was er sein Leben lang kannte. Ob gut oder schlecht, das Vertraute grub sich seinen Weg in jene Winkel des Herzens, in denen Zuneigung geboren wurde. Irgendwann fragte man nicht mehr, was man gewollt hatte; man betrachtete, was man bekommen hatte. Und fand sich damit ab.
Natürlich dachte sie ab und zu daran, wie ihr Leben in Cambridge ausgesehen hatte. An Abenden wie diesem kam ihr die alte Universitätsstadt in East Anglia besonders häufig in den Sinn. Sie hatte das Gefühl, an die tausend Mal — so wie heute — am Hafen gesessen und Sherry getrunken zu haben, und es war wie ein Sinnbild ihres Lebens — des Lebens, das sie anstelle von dem in Cambridge geführt hatte. Auch anstelle eines möglichen Lebens in Frankreich. Wenn sie damals nach dem Krieg mit Julien hätte nach Frankreich gehen können…
Aber wozu, so rief sie sich zur Ordnung, sollte sie lange überlegen? Die Dinge waren so gelaufen, wie sie vielleicht hatten laufen müssen. In jedem Leben, davon war sie überzeugt, wimmelte es von verpaßten Chancen, von versäumten Gelegenheiten. Wer konnte von sich sagen, immer konsequent, zielstrebig und kompromißlos gewesen zu sein?
Sie hatte sich abgefunden mit den Fehlern und Irrtümern ihres Daseins. Sie hatte sie eingeordnet zwischen all die anderen Ereignisse, die ihr widerfahren waren, und in der Menge verloren sie sich ein wenig, wurden unauffällig und blaß. Zeitweise gelang es ihr, sie völlig zu übersehen, manchmal sogar, sie zu vergessen.
In ihrem Verständnis hieß das, daß sie sich abgefunden hatte.
Nur mit den Rosen nicht.
Und nicht mit Helene.
Der Wirt vom Le Nautique in St. Peter Port näherte sich dem Tisch am Fenster, an dem die zwei alten Damen saßen.
«Zwei Sherry, wie immer?«fragte er.
Beatrice und ihre Freundin Mae sahen ihn an.
«Zwei Sherry, wie immer«, erwiderte Beatrice,»und zweimal Salat. Avocado mit Orangen.«
«Sehr gerne.«
Er zögerte. Er unterhielt sich gerne, und zu dieser frühen Stunde — es war noch nicht einmal sechs Uhr am Abend — hatte sich noch kein anderer Gast ins Restaurant verirrt.
«Es ist schon wieder ein Schiff gestohlen worden«, sagte er mit gedämpfter Stimme,»eine große, weiße Segelyacht. Heaven Can Wait heißt sie.«
Er schüttelte den Kopf.»Eigenartiger Name, nicht wahr? Aber den wird sie kaum behalten, so wenig wie ihre schöne, weiße Farbe. Wahrscheinlich haben sie sie längst umgespritzt, und sie gehört schon irgendeinem Franzosen drüben auf dem Festland.«
«Diebstähle von Yachten«, sagte Beatrice,»sind so alt wie die Inseln selbst. Es gibt sie und wird sie immer geben. Wen regt das noch wirklich auf?«
«Die Leute dürften ihre Schiffe nicht wochenlang unbeobachtet lassen«, meinte der Wirt. Er nahm einen Aschenbecher vom Nachbartisch, stellte ihn zu den beiden Damen, gleich neben die Vase mit den Rosen, die in dieser Woche den Gastraum schmückten. Er wies auf das kleine, weiße Reservierungsschild.»Ich brauche den Tisch ab neun Uhr.«
«Da sind wir längst weg.«
Das Le Nautique lag direkt am Hafen von St. Peter Port, der Hauptstadt der Insel Guernsey, und durch die zwei großen Fenster des Restaurants hatte man einen wunderschönen Blick über die zahllosen Yachten, die dort vor Anker lagen; man hatte sogar den Eindruck, zwischen all den Schiffen zu sitzen und Teil des Lebens und Treibens dort zu sein.
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