Du hättest mehr vom Leben haben können, wenn du dir mehr genommen hättest, hatte eine barsch klingende Stimme in ihrem Innern einmal zu ihr gesagt, und seither war diese Stimme nie mehr ganz verstummt.
«Ich würde Maja auch gerne etwas schenken«, sagte sie nun rasch,»ich komme mit euch, und sie könnte sich etwas aussuchen.«
Beatrice seufzte; sie hatte gewußt, daß Helene es wieder einmal versuchen würde.
«Helene, du willst Maja doch gar nichts schenken, und das erwartet auch kein Mensch von dir«, sagte sie.»Du magst Maja nicht besonders, was dein gutes Recht ist, und du brauchst nicht an ihrem Geburtstag so zu tun, als ob das anders wäre.«
«Aber…«
«Du willst einfach mit, weil du wieder einmal nicht weißt, was du sonst mit dir anfangen sollst. Das ist wirklich keine gute Idee. Du weißt, wie Maja ist, wenn man ein Geschenk für sie kauft — sie jagt kreuz und quer durch alle Geschäfte, und schon Mae und ich kommen kaum hinterher. Mit dir im Schlepptau wären wir völlig unbeweglich, denke nur an die vielen steilen Straßen und Treppen in St. Peter Port und an dein Rheuma!«
Helene war zusammengezuckt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.»Du kannst wirklich sehr kalt sein, Beatrice. Warum sagst du nicht gleich, daß ich euch lästig bin?«
«Dann würdest du mich ja noch kälter finden«, entgegnete Beatrice und wandte sich zur Tür. Sie hatte alles im Zimmer einigermaßen geordnet und aufgeräumt, und es befiel sie schon wieder das Gefühl, jeden Augenblick zu ersticken, wenn sie noch länger Helenes quengeliger Stimme lauschte und in ihr blasses Gesicht blickte.
«Es wird ein sehr schöner Tag werden. Du kannst dich in den Garten setzen und lesen und dich freuen, daß du nicht in der Gegend herumlaufen mußt.«
Helene kniff die Lippen zusammen. Andere Menschen sahen unsympathisch aus, wenn sie einen schmalen Mund bekamen, nicht aber Helene. Sie wirkte noch immer mitleiderregend.
«Wenn du dich schon so für Majas Geburtstag engagierst«, stieß sie hervor,»denkst du dann gelegentlich wohl auch daran, daß ich bald Geburtstag habe?«
«Das kann ich ja nun beim besten Willen nicht vergessen«, entgegnete Beatrice barsch.
Wie sollte sie auch? Sie und Helene hatten am selben Tag Geburtstag — am 5. September. Allerdings war Helene zehn Jahre früher geboren. Und überdies nicht auf Guernsey, so wie Beatrice.
Sondern in Deutschland.
Sie hatte Rindermist kommen lassen von einem Bauern aus Le Variouf. Damit wollte sie die Rosen düngen, zum letztenmal in diesem Jahr. Rindermist eignete sich am besten, viel besser als jeder andere Dünger, den man in Geschäften kaufen konnte. Sam, der Bauer, war gleich nach dem Frühstück erschienen und hatte eine Fuhre abgeliefert. Das Zeug stank jetzt im Schuppen vor sich hin, und Beatrice hatte irgendwie keine Lust, mit der Arbeit anzufangen. Vielleicht war es einfach zu heiß. Auch Sam hatte gemeint, es werde fast unerträglich warm werden — auf jeden Fall viel zu warm für die Jahreszeit.
«Das habe ich schon beim Aufstehen gemerkt«, hatte er gesagt, den Hut aus der Stirn geschoben und sich mit einem Taschentuch den Schweiß abgewischt.»Wird verdammt heiß heute, hab ich gedacht. Und da war wenigstens noch eine Brise in der Luft. Jetzt regt sich nichts mehr, merken Sie das? Kein Windhauch, nichts! Wird hart heute mit der Arbeit!«
«Ausgerechnet heute muß ich in die Stadt«, hatte Beatrice gesagt,»aber da kann man nichts machen. Ich werde es schon überleben.«
«Klar. Sie überleben alles, Mrs. Shaye!«
Er hatte gelacht und trotz der Hitze den Schnaps angenommen, den sie ihm anbot. Sam trank gerne einen kräftigen Schluck zwischendurch, aber er mußte es heimlich tun, weil seine Frau schimpfte, wenn sie etwas davon mitbekam.
Beatrice mußte an seine Worte denken, während sie durch den Garten wanderte, einen großen Hut zum Schutz vor der Sonne auf dem Kopf, einen Strohkorb am Arm und eine Gartenschere in der Hand, mit der sie Verblühtes abschnitt und Wildtriebe an den Rosen kappte. Eine ruhige, angenehme Beschäftigung, der Wetterlage angemessen.
Sie überleben alles, Mrs. Shaye!
Sie wußte, daß sie den Ruf hatte, unverwüstlich zu sein und sich von nichts und niemandem unterkriegen zu lassen, und manchmal wunderte sie sich über die Hartnäckigkeit, mit der ihre Umgebung an dieser Überzeugung festhielt. Sie selbst fühlte sich nicht einmal halb so stark, wie das die Menschen ringsum offensichtlich von ihr dachten. Eher hatte sie den Eindruck, daß es ihr geglückt war, einen recht stabilen Panzer um sich herum zu errichten, der allem standhielt, was von außen herandrängte, und der vor allem ihr Innenleben vor neugierigen Blicken schützte. Dort gab es, so meinte sie von Zeit zu Zeit zu spüren, noch eine Reihe Wunden, die bis heute nicht aufgehört hatten zu bluten. Das Gute war, daß offenbar wirklich niemand sie zu entdecken vermochte.
Sie schnippelte rasch und geübt an ihren Rosen herum, allerdings ohne ein einziges Wort an sie zu richten. Ihr Vater hatte immer mit den Rosen gesprochen und behauptet, dies sei außerordentlich wichtig.
«Sie sind Lebewesen. Sie brauchen Zuwendung und das Gefühl, ernst genommen und gemocht zu werden. Sie spüren genau, wenn man es gut mit ihnen meint, ihren Charakter, ihre Wesenszüge und Eigenarten respektiert. Und genauso merken sie es, wenn du sie herablassend und gleichgültig behandelst.«
Als kleines Mädchen hatte Beatrice diesen Worten andächtig gelauscht und keine Sekunde lang an ihrer Richtigkeit gezweifelt. Aber Andrew Stewart, ihr Vater, war für sie sowieso gleich nach dem lieben Gott gekommen, und es gab schlechthin nichts auf der Welt, was sie ihm nicht gläubig abgenommen hätte. In gewisser Weise war sie auch heute noch der Ansicht, daß er recht gehabt hatte, aber sie hatte seine Worte nie umsetzen können. Irgendwann, in den harten Jahren des Krieges und in den schweren Zeiten danach, war ihr die Fähigkeit abhanden gekommen, seine gemütvolle, sanfte und von einer echten Liebe zur Schöpfung durchdrungene Art zu leben für sich selbst zu übernehmen. Andrew war zu verletzbar gewesen, und das konnte und wollte sie sich nicht leisten. Und irgendwie wurde sie die Vorstellung nicht los, daß ein Mensch, der mit den Rosen sprach, dem Leben die Breitseite zum Angriff bot. Es mochte eine fixe Idee sein, ein Vorurteil, nicht zu belegen, aber es bewirkte, daß sie nicht in der Lage war, auch nur ein einziges Wort an ihre Rosen zu richten. Sie hatte es seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr fertiggebracht. Eine Ahnung sagte ihr, es werde einem Dammbruch gleichkommen, wenn sie es tat.
Als Helene vom Haus her rief, Beatrice möge ans Telefon kommen, war sie dankbar für die Gelegenheit, ein paar Minuten lang der immer drückender werdenden Hitze zu entkommen.
«Wer ist es denn?«fragte sie, als sie in den Flur trat. Helene, inzwischen mit einem rosafarbenen seidenen Morgenmantel bekleidet, stand vor dem Spiegel und hielt den Telefonhörer in der Hand.
«Es ist Kevin«, sagte sie,»er möchte dich etwas fragen.«
Kevin züchtete ebenfalls Rosen, stand aber im Unterschied zu Beatrice noch mitten im Geschäftsleben. Er war achtunddreißig Jahre alt und schwul, und er hing mit einer rührenden Zuneigung an den beiden alten Damen aus Le Variouf. Seine Gärtnerei lag zwanzig Autominuten entfernt an der Südwestspitze der Insel.
Kevin rief oft an; er fühlte sich häufig einsam und hatte es zu einer wirklich intakten, stabilen Partnerschaft noch nicht gebracht. Seine langjährige Beziehung zu einem jungen Mann namens Steve war gerade zerbrochen, sein gleichzeitig verlaufendes Verhältnis zu einem etwas zwielichtigen Franzosen bestand ebenfalls nicht mehr. Im Augenblick schien es niemanden für ihn zu geben. Guernsey bot wenig Möglichkeiten für Homosexuelle. Kevin träumte davon, eines Tages nach London zu ziehen und dort den» Mann fürs Leben «zu finden — wobei jeder, der ihn kannte, wußte, daß Kevin seine Insel nie verlassen würde. Und für das rauhe Leben in einer Großstadt war er schon gar nicht geschaffen.
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