Charlotte Gilman - Die gelbe Tapete

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Charlotte Perkins Gilman (1860-1935) ist das zweite Kind von Mary A. Finch und Frederick B. Perkins, einem Neffen von Harriet Beecher Stowe, der Autorin von «Onkel Toms Hütte». Der Vater, Schriftsteller und Bibliothekar, verlässt die Familie bald. Die Mutter schlägt die Familie mit Gelegenheitsarbeiten durch. Gilman besucht die Kunstgewerbeschule, danach entwirft sie Grußpostkarten und arbeitet als Hauslehrerin. 1884 heiratet sie den Kunstmaler Charles Walter Stetson und bekommt von ihm 1885 eine Tochter. Nach der Geburt hat Charlotte Perkins Gilman tiefe Depressionen. Ein Spezialist in Philadelphia verordnet ihr eine Ruhekur, bei der jegliche geistige Anstrengung eingeschränkt und das Schreiben untersagt ist. Durch diese Kur fühlt sie sich so zerrüttet, dass sie ihre Familie verlässt und zu einer Freundin nach Pasadena in Kalifornien flieht. 1892 veröffentlicht sie mit «Die gelbe Tapete» ihre erste Kurzgeschichte, die auf den Erfahrungen aus der Zeit ihrer Nervenkrise basiert. Die Veröffentlichung führt zu heftigen Reaktionen. «Die gelbe Tapete» gilt bis heute als literarisches Meisterwerk. Nach Charlotte Perkins Gilman 1934 an Brustkrebs erkrankt war, nahm sie sich ein Jahr später, mittels einer Überdosis Chloroform, das Leben.

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Von Alfred Goubran zuletzt bei Braumüller erschienen:

„Ort“, Wien 2010

„AUS.“, Wien 2010

„Kleine Landeskunde“, Wien 2012

„Dergelernte Österreicher“, Wien 2013

„Durch die Zeit in meinem Zimmer“, Wien 2014

„Das letzte Journal“, Wien 2016

„Herz“, Wien 2017

„Schmerz und Gegenwart“, Wien 2019

Charlotte Perkins Gilman

Die gelbe Tapete

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Alfred Goubran

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2. Auflage 2015

© 2015 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Die Originalausgabe erschien 2005 bei edition selene, Wien, Austria.

Coverbild: James Ensor: „La dame sombre“ (1881)

© by Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Bruxelles

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-040-1

ISBN E-Book: 978-3-99200-301-3

Inhalt

Die gelbe Tapete

Warum ich „Die gelbe Tapete“ schrieb

Biographie

Bücher und Herausgeberschaften

Es kommt nicht oft vor, daß gewöhnliche Sterbliche wie John und ich sich für den Sommer in Ahnenhallen einmieten können. Eine Villa aus der Kolonialzeit, ein Erbsitz am-Land, ich würde sagen: ein altes Spukhaus – das wäre der Gipfel romantischer Glückseligkeit; aber das wäre wohl vom Schicksal zuviel verlangt!

Trotzdem – und ich behaupte das nicht ohne Stolz: Irgend etwas stimmt mit dem Haus nicht. Warum würde man es sonst so billig vermieten? Und warum hätte es sonst so lange leer gestanden?

John lacht mich natürlich aus, aber man erwartet nichts anderes, wenn man verheiratet ist.

John ist praktisch bis zum Extrem. Er lehnt jeden Glauben ab, verabscheut jede Form von Aberglauben und läßt seinem Spott freien Lauf, sobald von Dingen die Rede ist, die man weder fühlen, sehen noch in Zahlen darstellen kann.

John ist Arzt, und – vielleicht(ich würde es selbstverständlich keiner lebenden Seele je anvertrauen, aber das ist totes Papier und eine große Wohltat für meinen Verstand), vielleicht ist das mit ein Grund, daß ich nicht so schnell gesund werde.

Denn sehen Sie: Er glaubt einfach nicht, daß ich krank bin!

Und was kann man da schon tun?

Was soll man tun, wenn ein angesehener Arzt, und der eigene Ehemann, Freunden und Verwandten ständig versichert, daß einem in Wahrheit nichts fehlt, abgesehen von einer momentanen nervlich bedingten Depression – einer leichten hysterischen Neigung?

Auch mein Bruder ist Arzt, auch er hat einen guten Ruf, und er behauptet dasselbe.

Also nehme ich Phosphate oder Phosphite – was auch immer es ist, und Stärkungsmittel, mache meine Übungen im Freien, bin viel an der frischen Luft, unternehme Ausflüge, und es ist mir strengstens verboten, „zu arbeiten“, bis es mir wieder besser geht.

Persönlich halte ich von all dem nichts.

Und ich bin überzeugt, daß geeignete Arbeit, anregend und abwechslungsreich, mir guttun würde.

Aber was soll man tun?

Eine Zeitlang schrieb ich trotzdem; aber es so heimlich tun zu müssen oder sonst nur auf Widerstand zu stoßen, erschöpft mich sehr.

Manchmal stelle ich mir vor, daß es in meinem Zustand, wenn ich etwas weniger Widerstand und dafür mehr Gesellschaft und Abwechslung hätte – aber John sagt, das Schlechteste, was ich im Moment tun könnte, sei, über meinen Zustand nachzudenken, und ich gestehe, daß ich mich dann immer schlecht fühle.

Also will ich es jetzt gut sein lassen und lieber über das Haus sprechen.

Was für ein schönes Anwesen! Es liegt ganz einsam, abseits der Landstraße, gut drei Meilen vom Dorf entfernt. Es erinnert mich an englische Landsitze, von denen man liest, denn es gibt Hecken und Mauern, Tore, die schließen, und zahlreiche kleine Häuser für die Gärtner und die Bediensteten.

Es gibt auch einen herrlichen Garten! Ich habe noch nie einen Garten wie diesen gesehen, groß und schattig, mit unzähligen von Buchsbaumhecken eingefaßten Wegen, gesäumt von langen traubenschweren Laubengängen, in denen Gartenbänke stehen.

Es gab auch Gewächshäuser, aber sie sind jetzt alle zerbrochen.

Es hat Rechtsstreitigkeiten gegeben, ich glaube, irgend etwas zwischen den Erben und den Miterben; jedenfalls stand das Haus für Jahre leer.

Das, fürchte ich, spricht nicht gerade für meine Spukhausvorstellung, trotzdem: Irgend etwas stimmt mit dem Haus nicht – ich kann es fühlen.

Und ich habe das auch einmal an einem mondhellen Abend zu John gesagt, aber er erwiderte nur, was ich fühle, sei die Zugluft und schloß das Fenster.

Manchmal werde ich ohne Grund wütend auf John. Ich weiß bestimmt, daß ich früher nicht so empfindlich war. Ich denke, das ist auf meinen nervösen Zustand zurückzuführen.

Aber John sagt, wenn ich mich so fühle, mangle es mir an dem nötigen Maß an Selbstkontrolle; also quäle ich mich damit ab, mich – zumindest in seiner Gegenwart – zu kontrollieren, und das macht mich sehr müde.

Unser Zimmer gefällt mir überhaupt nicht. Ich wollte eines der unteren Zimmer, das auf die Veranda hinausgeht und lauter Rosen vor dem Fenster hat und diese hübschen altmodischen Chintzvorhänge! Aber John wollte nichts davon hören.

Er sagte, es habe nur ein Fenster und für zwei Betten sei es zu klein, auch gebe es in der Nähe kein anderes Schlafzimmer, das er benutzen könne.

Er ist sehr fürsorglich und liebevoll und läßt kaum zu, daß ich ohne spezielle Anweisung einen Finger rühre.

Ich habe eine Liste mit Vorschriften für jede Stunde des Tages; John nimmt mir alle Sorgen ab, und im Grunde empfinde ich mich als undankbar, weil ich das nicht mehr zu schätzen weiß.

Er sagte, wir seien nur meinetwegen hierhergekommen, damit ich völlige Ruhe hätte und so viel frische Luft, wie ich nur kriegen könne. „Wieviel du dich bewegst“, sagte er, „ist abhängig von deiner Kraft, meine Liebe, und dein Essen ein bißchen von deinem Appetit; aber frische Luft kannst du jederzeit atmen.“

Also nahmen wir das Kinderzimmer ganz oben im Haus.

Es ist ein großer, luftiger Raum, der fast das ganze Obergeschoß einnimmt, mit Fenstern nach allen Himmelsrichtungen und Luft und Sonnenschein im Überfluß. Es war ursprünglich ein Kinderzimmer und danach ein Spiel- und Turnzimmer; zumindest nehme ich das an, denn die Fenster sind für kleine Kinder gesichert und an den Wänden sind Ringe und andere Turngeräte angebracht.

Die Wandfarbe und die Tapete sehen aus, als seien sie in einer Knabenschule in Verwendung gewesen. Sie – die Tapete – ist überall um das Kopfende meines Bettes, etwa so hoch wie ich hinaufreichen kann, in breiten Streifen heruntergerissen und ebenso an einer große Stelle weiter unten an der gegenüberliegenden Wand. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine scheußlichere Tapete gesehen!

Mit einem dieser wuchernden, flammenzungenähnlichen Muster, die keine künstlerische Sünde auslassen.

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