«Die Familie kann ihr da wohl nicht helfen.«
«Wir haben uns alle schon den Mund fusselig geredet. Olivia will nicht einsehen, daß sie mit ihrem Verhalten ja auch Dany schädigt. Unter der professionellen Anleitung ausgebildeter Pädagogen in einem Heim könnte Dany bestimmt manches lernen, was ihr das Leben erleichtert. Sie würde gefordert werden, anstatt abwechselnd stumpf oder aggressiv vor sich hin zu vegetieren. Was Olivia jetzt tut, indem sie sie völlig abgeschottet im Schoß der Familie aufwachsen läßt, ohne Disziplin und ohne Aufgaben, verhätschelt von ihr und Elisabeth — das ist das eigentliche Verbrechen an diesem Kind.«
«Wie alt ist Dany jetzt?«
«Dreizehn. Selbst wenn Olivia es sich jetzt noch anders überlegen würde, hätte sie die kostbarsten Jahre schon vertan. Aber sie wird es sich nicht anders überlegen.«
Er nickte nachdenklich. Die Dämmerung vertiefte sich rasch. Es wurde kälter, und ein paar Schneeflocken wirbelten schon durch die Luft.
«Und Carolin, unsere Jüngste, ist auch ein Problemkind«, fuhr Leona fort.»Sie bestand immer nur aus geballter Opposition, solange ich denken kann. Ich war der einzige Mensch, der überhaupt etwas Einfluß hatte, an den sie sich wandte mit all den krausen Ideen, die in ihrem Kopf herumspukten. Sie hat dieses Dorf gehaßt, die Menschen, die Idylle.«
«Aber sie ist hiergeblieben.«
Leona lachte.»Ironie des Schicksals. Über all dem Demonstrieren, Protestieren, Opponieren hat sie völlig vergessen, sich um so banale Dinge wie einen Schulabschluß zu kümmern. Jetzt kann sie nicht weg von daheim, weil sie keine Ahnung hat, wovon sie und ihr Kind leben sollen.«
«Und ihr Freund schmarotzt sich bei deinen Eltern durch.«
«Freund Nummer zweihundert. Sie liest die eigenartigsten Typen auf, schleppt sie ins Haus, läßt sie eine Weile durchfüttern und trennt sich wieder von ihnen. Ben hält sich schon erstaunlich lange. Letztlich wird er aber genauso in der Versenkung verschwinden wie alle seine Vorgänger.«
Robert wandte sich ihr zu und nahm ihre beiden Hände in seine.
«Dann bist du also die gute Tochter!«
Leona verzog das Gesicht.»Mehr oder weniger. Zur Zeit eher weniger. Die Trennung von Wolfgang hat meine Eltern ganz schön geschockt. Ich war doch das Vorzeige-Kind. Das Kind, bei dem ihre Saat aufgegangen ist.«
«Du bist eine attraktive, erfolgreiche Frau, Leona. Und die bleibst du auch — mit oder ohne Wolfgang. Dir ist da eine Sache im Leben schiefgegangen — na und? Jetzt hast du mich. Und ich werde dich nie verlassen. Hier«, er kramte in der Tasche seines Mantels und zog ein kleines Päckchen hervor,»hier habe ich noch ein Weihnachtsgeschenk für dich.«
«Das geht nicht«, protestierte Leona,»du hast mir schon so viel geschenkt!«
«Pack es aus!«
Sie mußte ihre Handschuhe ausziehen, um die Schleife zu lösen und das Papier zu entfernen. Eine kleine, dunkelblaue Schmuckschachtel kam zum Vorschein. Sie öffnete sie. Auf blauem Samt glänzte ein goldener Ring. Statt eines Steins trug er ein kleines geschwungenes R aus Weißgold.
«Wie schön«, flüsterte Leona.
Robert nahm den Ring aus der Schachtel, zog Leonas rechte Hand zu sich heran und steckte ihr vorsichtig den Ring an den Finger. Er paßte wie maßgefertigt.
«Ich möchte, daß du ihn immer trägst, Leona. Tag und Nacht. Er ist ein Pfand unserer Liebe. Er bindet uns für alle Zeiten unlösbar aneinander.«
«Natürlich werde ich ihn immer tragen! Wo hast du ihn nur her?«
«Aus Italien. «Er lächelte.»Ich habe ihn extra anfertigen lassen. Das hat einige Zeit gedauert, deshalb war ich so lange fort.«
Und sie hatte ihn mit Wut und Vorwürfen empfangen bei seiner Rückkehr! Auf einmal schämte sie sich. Kleinlich und engstirnig hatte sie sich benommen…
«Es tut mir leid«, murmelte sie.
Inzwischen war es schon so dunkel geworden, daß sie sein Gesicht nur noch schemenhaft erkennen konnte. Aber er schien wieder zu lächeln.
«Nichts«, sagte er,»gar nichts muß dir leid tun. Sei einfach glücklich, daß wir zusammen sind. Daß wir einander gefunden haben.«
Er nahm ihren Kopf in beide Hände. Seine Finger gruben sich in ihr Haar.
«Ich liebe dich«, flüsterte er.
«Ich liebe dich auch«, sagte Leona.
«Es ist so schön«, murmelte er,»deine Haare werden wieder länger.«
Er sagte das in dem gleichen Ton, in dem er» Ich liebe dich «gesagt hatte, und Leona brauchte einen Moment, um den Themenwechsel nachvollziehen zu können. Ihre Haare?
Sie wich etwas zurück. Weiße Atemwölkchen quollen zwischen ihren beiden Gesichtern.
«Meine Haare? Liegt dir so viel daran?«
Sein Nicken konnte sie nur ahnen.
«Sie waren so schön. Sie waren das, worin ich mich zuallererst verliebt habe. Golden und glänzend, über deinen ganzen Rücken flossen sie…«
«Weißt du, Robert«, sagte sie, auf sein Verständnis vertrauend,»ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frau mit den langen Haaren jemals wieder sein kann. Es ist… irgendwie scheint es mir nicht mehr passend. Ich weiß gar nicht genau, ob ich sie wieder wachsen lassen will.«
«Du tust es für mich«, sagte Robert.
Er schien dies für einen ausreichenden Grund zu halten.
Und den ganzen Abend lang dachte Leona über diesen Satz nach.
Eigenartig, wie sehr sie ihre Schwester vermißte. Wenn Vater tot ist, dachte Lisa, bin ich die letzte Überlebende dieser Familie.
Diese Vorstellung hatte etwas Erschreckendes für sie, rief in ihr die Assoziation mit dem letzten Passagier auf einem sinkenden Schiff wach. Einsam, verlassen, völlig auf sich gestellt, den unberechenbaren Elementen ringsum preisgegeben.
Mein Leben ist kein untergehendes Schiff, sagte sie sich wieder und wieder, und um mich herum tobt nicht ein alles verschlingendes Meer!
Aber letzten Endes sahen genau so die düsteren
Empfindungen in ihrer Seele aus, und es gelang ihr nicht, sie durch Vernunft und Sachlichkeit zu vertreiben.
Anna war nie da, wenn ich sie brauchte! Die ganzen letzten Jahre mußte ich mit allem allein fertig werden! Es macht für mich überhaupt keinen Unterschied, ob sie lebt oder tot ist.
Aber es machte einen Unterschied. Einen idiotischen, unvernünftigen, unerklärbaren Unterschied.
Weil eine Schwester in Südamerika etwas anderes ist als eine tote Schwester, dachte Lisa.
In den naßkalten, grauen Januartagen des neuen Jahres ging es ihrem Vater immer schlechter. Ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst, magerte er nun weiter ab. Hohlwangig und hohläugig lag er in seinem Bett. Meist fehlte ihm die Kraft, sich bis ins Bad zu schleppen, dann mußte ihn Lisa im Bett mit einem Lappen waschen und ihm sein Essen — warme Babynahrung aus Gläsern — mit einem Löffel füttern. Oft genug behielt er die klägliche Mahlzeit nicht bei sich. Manchmal kam Lisa nicht rechtzeitig, um ihm den Kopf zu halten, dann erbrach er sich über Kissen und Decken, und sie mußte ihn in den Sessel schaffen, um das Bett frisch beziehen zu können. In solchen Dingen war Benno eine segensreiche Hilfe gewesen, und oft genug sehnte sie ihn zurück, aber dann dachte sie an das Geld und wußte, daß es ohne ihn gehen mußte.
Früher hatte sie ihren Vater während all der Hilfeleistungen, die sie trotz Bennos Anwesenheit noch selbst hatte ausführen müssen, insgeheim und ohne schlechtes Gewissen gehaßt. Sie hatte es ihm persönlich übelgenommen, daß er krank geworden war, hatte sein Gejammer verachtet, sein Stöhnen und Seufzen, sein Sich-gehen-Lassen. Und hatte Pläne geschmiedet, ganz für sich, für die Zeit danach. Jeden Tag war ihr etwas eingefallen. Das Leben sollte sie entschädigen für die verlorenen, verdüsterten Jahre.
Lisa wußte, daß sie einen entscheidenden Trumpf besaß: ihr Aussehen. Die Dorfjungen hatten schon immer begehrlich hinter ihr hergeschaut, aber auch die» richtigen «Männer wandten die Köpfe nach ihr um, wenn sie, was selten genug geschah, nach München fuhr und in Minirock und Stöckelschuhen die Straße entlangging. Aber neben der Schönheit stellte natürlich auch ihre Jugend ihr Kapital dar, und diese war ein höchst vergänglicher Faktor. Deshalb hatte sie manchmal gedacht: Wenn er schon stirbt, dann dauert das hoffentlich nicht mehr so lange.
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