«Sie müssen jetzt wirklich einmal zum Abendessen zu mir kommen, Leona«, verlangte sie.»Ich bin böse, wenn Sie sich wieder herausreden.«
Sie verabredeten sich für Freitag abend. Es war der neunzehnte Dezember, und seit dem Nachmittag schneite es. Als sich Leona abends auf den Weg machte, blieb der Schnee bereits liegen, verlieh dem Stadtviertel den ersten Anstrich von Zuckerbäckermärchen. Er verschluckte die Schritte auf dem Asphalt, dämpfte alle Geräusche. Unter anderen Umständen, in einer anderen Situation hätte Leona die Atmosphäre geliebt.
Lydia hatte ihre kleine Wohnung geschmückt wie einen Weihnachtsmarkt, es gab fast keinen Fleck mehr, an dem nicht eine Kerze oder ein Tannenzweig, ein Engel oder eine Krippenfigur standen. An den Fenstern klebten Sterne aus Stroh und Buntpapier. Vom Plattenspieler dudelten Weihnachtslieder.
Leona fühlte sich ein wenig schuldbewußt, als sie merkte, wieviel Mühe sich Lydia mit dem Essen gemacht hatte; sie mußte fast den ganzen Tag in der Küche gestanden haben. Sie war außer sich vor Freude, weil Leona sie endlich besuchte. Erneut erkannte Leona, wie einsam diese Frau war, wie tragisch Evas Selbstmord für sie gewesen sein mußte. Leona war vor allem gekommen, um etwas über Robert zu erfahren, und nun schämte sie sich dieser Absicht so sehr, daß sie zunächst überhaupt nicht wußte, wie sie davon anfangen sollte.
Glücklicherweise kam Lydia von selbst darauf zu sprechen. Beim dritten Gang — Zanderfilet auf Linsengemüse mit Kartoffeln — kicherte sie plötzlich und neigte sich vertraulich über den Tisch.
«Hat sich eigentlich Robert Jablonski mal bei Ihnen gemeldet? Er hat mich doch gefragt, ob Sie verheiratet sind. Und er wollte Ihre Telefonnummer haben!«
Von der Telefonnummer hat er gar nichts gesagt, dachte Leona. Laut sagte sie:
«Ich habe ihn im November mal getroffen. An Evas Grab.«
«An Evas Grab? Er war hier in Frankfurt?«
«Für zehn Tage ungefähr.«
«Hm. «Lydias Augen verrieten, daß es sie kränkte, nichts davon gewußt zu haben.»Bei mir hat er sich überhaupt nicht blicken lassen. Dabei war ich die beste Freundin seiner Schwester!«
Zu Leonas Leidwesen schwenkte sie in ihrer Verletztheit schon wieder weg von Robert.
«Und Bernhard Fabiani? Der wollte auch Ihre Telefonnummer!«
«Der hat angerufen, ist aber nur ans Band geraten. Ich habe ihn nicht zurückgerufen.«
«Das tun Sie nie«, stellte Lydia, aus eigener Erfahrung schöpfend, bekümmert fest. Dann nahm ihr Gesicht einen verächtlichen Ausdruck an.»Er wollte mit Sicherheit mit Ihnen anbändeln. Das ist wie eine Krankheit bei ihm. Ich glaube, wenn ihm irgendeine Frau entgeht, dann empfindet er das als persönliche Niederlage. Ich habe ihn ja ganz rigoros abblitzen lassen.«
«Bei Ihnen hat er es auch versucht?«fragte Leona überrascht.
«Natürlich. Aber Eva war meine Freundin, verstehen Sie? Für mich kam ein Verhältnis mit Bernhard nicht in Frage.«
Leona betrachtete die dickliche, biedere Frau mit den gelben Locken und dem teigigen Gesicht und überlegte, ob in diesem Fall nicht wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen war. Lydia hatte nichts an sich, was einen Mann wie Bernhard Fabiani hätte reizen können.
Sie stellte ihr die gleiche Frage, die sie auch Robert schon gestellt hatte.
«Warum hat sich Eva vier Jahre nach der Scheidung so viel aus seinen Affären gemacht?«
«Er hat sie nicht in Ruhe gelassen, daher konnte sie ihn nicht vergessen. Im letzten Dreivierteljahr rief er immer wieder an, tauchte auch öfter hier auf. Damit hat er Eva natürlich Hoffnungen gemacht.«
«Wie oft kam er her?«
Lydia überlegte.»Ein- oder zweimal im Monat. Eva war ganz aufgedreht, wenn sein Besuch bevorstand, ganz euphorisch. Ich habe häufig das Essen gekocht und ihr dann rübergebracht, so daß sie es nur noch warm machen mußte. Eva konnte ja überhaupt nicht kochen, aber ihn wollte sie unbedingt beeindrucken, und es mußte alles vom Feinsten sein.«
«Sie kochen aber auch wirklich hervorragend, Lydia«, sagte Leona pflichtschuldig und dennoch aufrichtig.
Lydia strahlte.»Das hat Eva auch immer gesagt. Wissen Sie, ich bin vor fünf Jahren vorzeitig in Rente gegangen. Wegen meines Bluthochdrucks. Ich hatte nichts mehr zu tun, und das Kochen ist mein Hobby geworden. Es macht mir wirklich Spaß. Bernhard Fabiani soll auch stets sehr angetan gewesen sein. Ich sage immer: Liebe geht durch den Magen.«
«Bei Professor Fabiani hat das wohl dennoch nicht richtig gewirkt.«
«Der kann gar nicht lieben«, behauptete Lydia,»der weiß nicht mal, was Liebe ist. Der wollte Eva auch gar nicht zurückhaben, der wollte nur seinen Einfluß auf sie behalten. Sie war ja eine sehr attraktive Frau. Ich glaube, ihn hat's gewaltig gewurmt, daß sie sich von ihm hat scheiden lassen. Das hätte er ihr nie zugetraut. Er mußte unbedingt sehen, wieviel Macht er noch über sie hat. «Leona hielt diese Theorie für nicht unplausibel. Psychologisch konnte sie diese Überlegung durchaus nachvollziehen, vermochte sich allerdings nicht vorzustellen, daß sie Lydias Gehirn entsprungen sein sollte.
«Hat Eva das so gesehen?«erkundigte sie sich.
Lydia nickte.»Sie hat sich irgendwann keine Illusionen mehr gemacht. Es war wieder so schlimm, als sei nicht ein Tag seit der Scheidung vergangen. Nächtelang hat sie geweint, das arme Ding!«
«Sie lebten ja nun jeder in einem anderen Stadtteil«, sagte Leona.»Hat sie denn noch so viel mitbekommen von seinen amourösen Aktivitäten?«
Lydia zögerte, aber natürlich konnte sie keine Information für sich behalten.
«Es wäre Eva sehr peinlich, aber Ihnen kann ich’s ja sagen. Sie hat ziemlich hinter ihm herspioniert. Sie ist oft zur Uni gefahren oder zu seiner Wohnung, hat ihn gewissermaßen beschattet. Zwischen ihren verschiedenen Jobs hat sie ja genug Zeit dafür gefunden. Da hat sie ihn immer wieder mit anderen Frauen beobachtet. Es hatte sich nichts geändert.«
«Und sie war immer sicher, daß er mit den jeweiligen Frauen auch ein Verhältnis hatte?«
«Die Situationen waren wohl meist recht eindeutig.«
«Hatte sie eigentlich viel Kontakt mit ihrem Bruder?«fragte Leona gleichmütig. Sie mußte das Gespräch unbedingt wieder auf Robert lenken.»Er hätte ihr doch helfen können.«
«Der wohnte zu weit weg. Er hat sie natürlich immer mal wieder besucht, aber dazwischen lagen lange Phasen, in denen sie einander nicht sahen. Er versuchte sie zu überreden, nach Ascona zu ziehen, aber sie mochte nicht. Ich weiß nicht genau, warum. Sie verstand sich wohl mit seiner Freundin nicht so gut.«
«Kannten Sie die Freundin?«
«Flüchtig. Sie war einmal mit ihm hier. Vor etwa einem Jahr.«
«Sie ist seit eineinhalb Jahren tot«, korrigierte Leona.
«Es kann auch länger hersein, daß sie mit ihm hier war«, meinte Lydia. Sie machte große Augen.»Sie ist tot? Das wußte ich nicht. Wie entsetzlich!«
«Sie ist im See ertrunken. Bei einem Sturm.«
«Warum weiß ich das nicht?«fragte Lydia verletzt.»Ich meine, er hat es doch ganz bestimmt Eva erzählt! Warum hat sie es mir nicht gesagt?«
Leona fand das auch merkwürdig, aber sie dachte sich ihren Teil. Lydia mochte sich als Evas beste Freundin bezeichnen, aber es blieb fraglich, ob Eva das auch so gesehen hatte. Vielleicht hatte sie Lydia vieles nicht erzählt — um sich vor ihren aufgeregten Kommentaren, ihren indiskreten Fragen zu schützen.
«Die Familie zieht offenbar das Unglück an wie ein Magnet, nicht? Ich bringe jetzt den Nachtisch, Leona. Sie müssen mehr essen, Sie sind viel zu dünn!«
Nach Glühwein und Weihnachtsgebäck machte sich Leona auf den Heimweg. Ihr Körper fühlte sich schwer und unbeweglich an, so satt war sie. Es schneite unablässig. Im Schein der Straßenlaternen sah die Welt verzaubert aus. Sie hatte nichts Neues herausgebracht, aber trotzdem war es ein netter Abend gewesen, unterhaltsamer zumindest, als daheim zu sitzen. Sie hatte genug Alkohol getrunken, um die dunklen Fenster ihres Hauses, die leeren Zimmer, das kalte Bett ertragen zu können.
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