Am nächsten Tag ging sie zum Friseur im Dorf und ließ sich ihre Lorelei-Haare raspelkurz abschneiden. Sie fand sich nicht schöner danach, aber erstaunlicherweise fühlte sie sich trotzdem besser.
Sie sah ihn wieder im November, am Totensonntag. Ein nasser, windiger, grauer Tag. Ein Sturm hatte in der Nacht zuvor die letzten Blätter von den Bäumen gezerrt, und nun trieb er seit dem frühen Morgen immer neue schwarze Wolken von Westen heran. Es regnete ohne Unterlaß. Bis zum Abend, so hatten die Meteorologen prophezeit, werde der Regen in Schnee übergehen. Seit der Beerdigung war Leona nicht mehr an Evas Grab gewesen, aber an diesem Tag verspürte sie plötzlich ein unerklärliches Bedürfnis danach. Ein dankbarer Autor, für dessen Werk sie sich eingesetzt hatte, hatte ihr am Freitag einen Rosenstrauß in den Verlag geschickt. Am Samstag, während ihres einsamen Frühstücks, war ihr der Gedanke gekommen, die Rosen zu Eva zu bringen.
Sie ging am Mittag auf den Friedhof. Die meisten Leute schienen zu essen um diese Zeit, denn kaum jemand war zwischen den Gräbern zu sehen. Eine alte Frau schleppte eine gefüllte Gießkanne die Wege entlang; sie tat sich schwer damit, schien aber einer Routine zu folgen, von der es kein Abweichen gab: Trotz des strömenden Regens mußte sie ein Grab — wahrscheinlich das ihres Mannes — begießen.
Evas Grab sah ziemlich verwildert aus. Hatte Robert vergessen, den Auftrag für die Grabpflege zu erteilen? Oder hatte Lydia diese Verpflichtung an sich gerissen und war nun zu bequem, ihr wirklich nachzukommen?
Sie kauerte sich nieder, entfernte welke Blätter und einiges Unkraut. Evas Name auf dem schlichten Grabstein rief eine tiefe Traurigkeit in ihr hervor, und erst nach einer Weile merkte sie, daß alles zusammen ihr Schmerz verursachte: der Herbst, der Regen, die kahlen Bäume, der Friedhof, ihre Einsamkeit. Die Hoffnungslosigkeit, daß Wolfgang zu ihr zurückkommen würde. Die Gewißheit, daß, selbst wenn er es täte, nichts mehr je so sein konnte, wie es gewesen war.
Sie schrak zusammen, als sie angesprochen wurde.
«Leona? Sind Sie das?«
Sie sprang auf und drehte sich um. Hinter ihr stand Robert Jablonski, noch nasser als sie, wenn das überhaupt möglich war. Sie starrte ihn an.
«Mein Gott, ich habe Sie überhaupt nicht kommen hören! Ich hätte Sie hier gar nicht vermutet. Ich dachte, Sie sind in Ascona!«
«Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte er entschuldigend.»Ich dachte, Sie hätten meine Schritte gehört.«
«Der Regen. Er rauscht so laut.«
«Ich habe einen Spaziergang über den Friedhof gemacht, weil es schon gar nicht mehr darauf ankam, wie naß ich noch werde. Jetzt wollte ich zum Schluß noch einmal an Evas Grab. «Er wies auf die Rosen, die Leona direkt unter den Stein gelegt hatte.»Ihre Blumen? Sie sind wunderschön!«
«Ich habe sie geschenkt bekommen, aber ich dachte, Eva sollte sie haben.«
Er nickte.»Ich denke viel an Eva«, sagte er,»sie… ist noch
lebendig für mich.«
Sein bekümmertes Gesicht verriet einen Schmerz, den Leona nur zu gut nachempfinden konnte.
Sie wiederholte die Frage, die sie ihm gleich zu Anfang gestellt hatte:»Warum sind Sie nicht in Ascona? Sie leben doch noch dort, oder?«
Er nickte.»Ich habe wegen des Wohnungsverkaufs hier noch ein paar Dinge zu regeln. Ich werde für etwa zehn Tage hier sein. Ich habe mir etwas zum Arbeiten mitgebracht. Ab und zu komme ich gerne her. Ascona ist wunderschön, aber hin und wieder muß ich einfach zurück nach Deutschland.«
«Das kann ich verstehen.«
«Ich hätte Sie fast nicht erkannt«, fuhr er fort,»Sie sehen verändert aus. Hatten Sie nicht noch im Sommer lange Haare?«
Sie strich sich über ihre kurzen Stoppeln.»Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu verändern.«
«Ach so.«
Sein Gesichtsausdruck verriet nichts davon, ob er sie vorher attraktiver gefunden hatte. Unschlüssig standen sie einander im Regen gegenüber, und der Wind zerrte an ihren Mänteln.
«Wollen wir irgendwo einen Kaffee zusammen trinken?«fragte Robert.
Leona dachte an ihr leeres, stilles Haus, an den leeren, stillen Sonntagnachmittag, der vor ihr lag.
«Gehen wir«, sagte sie.
Mit dem Besitzer des italienischen Restaurants, in dem sie jeder eine Kleinigkeit aßen, unterhielt er sich in fließendem Italienisch, und sie erfuhr, daß er als Übersetzer für verschiedene italienische und deutsche Verlage tätig war.
«Welche Sprachen sprechen Sie noch?«fragte sie.
Er zählte auf:»Englisch natürlich, Französisch, Spanisch. Und ein bißchen Russisch, aber das reicht bei weitem nicht für Übersetzungen.«
«Sie müssen sehr sprachbegabt sein.«
Er nickte stolz.»Es fiel mir immer leicht, Sprachen zu lernen. Ich habe mich nie sehr darum bemühen müssen.«
«Ich bewundere das. Man kriegt so viel mehr mit von der Welt, wenn man auch in anderen Ländern versteht, was um einen herum gesprochen wird.«
Er lächelte.»Das erleichtert vieles, ja.«
Der Kellner brachte ihren Cappuccino. Während er in seiner Tasse rührte, fuhr Robert fort:»Sie arbeiten in einem Verlag, nicht?«
«Ich bin Lektorin. Woher wissen Sie das?«
«Lydia hat es mir erzählt. Sie wissen schon, Evas Nachbarin.«
Leona mußte grinsen.»Sie hat es Ihnen nicht erzählt, Sie haben sie ausgefragt. Sie haben sie gefragt, ob ich verheiratet bin.«
«Ich habe mir doch gleich gedacht, daß man ihr nicht trauen kann«, sagte Robert resigniert.»Sie ist ein entsetzliches Plappermaul.«
«Sie scheint Bernhard Fabiani meine Telefonnummer gegeben zu haben. «Leona berichtete von Bernhards Anruf im September.»Ich habe ihn nicht zurückgerufen, und er hat sich dann auch nicht mehr gemeldet.«
«Wahrscheinlich hoffte er, bei Ihnen landen zu können«, meinte Robert. Er rührte heftig in seiner Tasse, der Kaffee schwappte auf den Unterteller.»Das soll Sie nicht diskreditieren, Leona, aber er versucht es wirklich bei jeder!«
«Er wirkte auf mich gar nicht so.«
«Darauf ist Eva ja auch hereingefallen. Auf seine ruhige, seriöse Ausstrahlung. ›Ein Mann zum Festhalten‹ sagte sie vor der Hochzeit. Nach der Hochzeit redete sie meist ganz anders.«
«Kennen Sie ihn gut?«
«Nicht besonders. Wir hatten nicht allzuviel Kontakt in den Jahren ihrer Ehe. Ich erinnere mich, als sie das erstemal zu mir nach Ascona kamen. Bernhard flirtete mit einer
Hotelangestellten, und Eva verlor völlig die Nerven. Sie stand mitten in der Nacht in Tränen aufgelöst vor meiner Wohnungstür. Ich hielt das damals noch für ein einmaliges Vorkommnis. Aber die Fälle häuften sich.«
«Sie sagten einmal, Sie hätten Eva vor ihm gewarnt?«
«Ich hatte ein dummes Gefühl bei ihm. Unglücklicherweise konnte ich es nicht genau definieren, und damit waren all meine Warnungen natürlich wenig überzeugend.«
«Was mich wundert«, sagte Leona,»ist, daß die beiden doch seit vier Jahren geschieden sind. Hat sie denn nach der Trennung immer noch unter seinen Affären gelitten?«
Robert zuckte die Schultern.»Laut Lydia: ja. Eva hat wohl nie aufgehört zu hoffen, es werde wieder alles gut zwischen ihr und Bernhard. Sie hatte schlimme Depressionen.«
«Lydia sagte, die seien besser geworden. «Sie erinnerte sich an den Tag des Unglücks. Lydia hatte damals noch etwas hinzufügen wollen, aber sie waren unterbrochen worden.»Sie deutete an, daß sich seit einem dreiviertel Jahr aber wieder etwas geändert habe.«
«Ich habe das auch nicht so genau mitbekommen, ich war ja zu weit weg. Lydia behauptet, daß sich Bernhard seit einem dreiviertel Jahr wieder verstärkt um Eva bemüht habe. Er hat sie ein paarmal besucht, sie öfter angerufen. Eva war natürlich sofort wieder voller Hoffnung. Aber dann muß es erneut Affären seinerseits gegeben haben, Lügen und Heimlichkeiten und all das Theater, das sie vom ersten Tag an mit ihm durchgemacht hatte. Sie meinte wohl, es nicht noch einmal durchstehen zu können.«
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