Die Töne hingen noch zwischen ihren Köpfen, segelten nur zögernd durch das geöffnete Fenster hinaus, wo die Vorhänge sich im leichten Wind bauschten. Bald war Frühling. Frau Hermanns würde Eier färben, sie würde bunte Sträuße in Terrakotta-Vasen platzieren, würde mit nackten Beinen auf einer Segeltuchliege im Garten liegen und halbgelangweilt eine Illustrierte durchblättern, die Sonnenbrille dann abnehmen und mit gesenkten Lidern den Kuss ihres Gatten erwarten, hatte er gedacht, schrieb er Marc. Und er dachte eine Farbe: Hellgrün. Er schloss den Mund. Er war etwas trocken geworden.
«Das haben Sie toll gespielt.«
Die Klavierschülerin lächelte in die Ferne des Gartens. Ein Lächeln wie ein streng gesichertes, hinter Panzerglas hängendes altes Gemälde, von Rissen durchquert. Und es krampften sich die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten, die Fingerknöchel wölbten sich weiß unter der Haut, ergaben eine Kette heller Hügelchen. Das Glas splitterte. Ihr Kopf fiel in ihre Hände, die sich schnell wie ein Fächer vor ihrem Gesicht ausbreiteten. Reflexartig legte Tom seine Fingerkuppen auf ihren Arm, und als hätte jemand ein Korsett entfernt, kippte ihr Oberkörper dem seinen entgegen, sank ihr Kopf an seine Schulter. Tom führte seine Hand durch die Luft, ließ sie unentschlossen über ihrem Haar kreisen. Aber ihre Wirbelsäule streckte sich abrupt, und Frau Hermanns strich sich mit beiden Handrücken über die Wangen, wobei sie zwei blaugraue Schlieren ihrer Wimperntusche hinterließ. Es tue ihr leid, flüsterte sie, dann lächelte sie, ihre Mundwinkel hüpften, wie das Zucken von Insektenbeinen.
«Nein«, sagte Tom,»nein«, ohne zu wissen, was er eigentlich damit meinte, und plötzlich lag seine Hand auf ihrer Wange. Mit dem Daumen versuchte er, die dunklen Schminkestreifen wegzuwischen. Sie blickte ihn an, voll Staunen, und unvermittelt vergrub sie ihre Finger in seinem Nacken, wühlte sie kühl und bebend in sein Haar, und wieder hinterließen sie eine Mentholspur, und hier endete der Brief, weil Tom nichts über das Folgende schreiben konnte, über ihre Murmelaugen, ihr Gesicht, das noch immer in Verwunderung war, so als wäre er es, der sie im Nacken anfasste, nicht umgekehrt, und nichts darüber, wie er dann glatte Wärme spürte, weil seine Hand offensichtlich langsam und eigenmächtig über ihren Hals hinabgewandert war, bis zu ihrer Schulter unter der engen Bluse. Nichts über seinen Mund, der seiner eigenmächtigen Hand hinterherdrängte, eine besonders einladende Stelle ihres Schlüsselbeins berührte, ein Muttermal, bevor sie, die Hände noch immer in seinem Haar, sein Gesicht (zum Glück rasiert, als hätte er es geahnt) an ihres zog. Und dann drückte sie mit flacher Hand seinen Oberkörper nach hinten, raffte ihren Rock, so dass ihre Oberschenkel freilagen, muskulös, rund, schwang ihr langes Bein über ihn, saß gespreizt auf seinem Schoß, wodurch ihr Rücken offenbar ein paar Tasten senkte, dunkler Akkord in den unteren Lagen, und Tom, während er ihn zu analysieren versuchte, was ihm nicht gelang, grub seinen Kopf in ihren Hals, und ihre Hände knöpften sein Hemd auf, öffneten ihre eigene Bluse, unter der ein seidener Spitzen-BH zum Vorschein kam, was nicht anders zu erwarten war. Dort, wo sich die Brust teilte, ein weiteres Muttermal, hellbraun. Tom berührte es mit den Lippen, löste dann mit ungeschickten Fingern ihren BH, Verschluss vorn, was er noch nie gesehen hatte, und unterhalb ihrer Brüste, die sich nun schwer nach rechts und nach links neigten, verlief eine rötliche Druckspur.
Ihre Finger tasteten über seine Hose, öffneten den Gürtel, den Knopf seiner Jeans, den Reißverschluss. Sie schob ihren Slip zur Seite, setzte sich auf ihn, und während die Klaviercluster, die sie in der Bewegung produzierten, um ihn herum verhallten und auch das Zimmer immer undeutlicher wurde, sah er doch seine eigene Hand, die auf ihrem Hals lag, Ausschnitte ihres Gesichts, Kinn, Lippen, wieder seine eigene Hand auf ihrem Kinn, auf ihrem Mund jetzt, verschwimmend, dann Dunkelheit, weil er die Augen schloss.
Sie hing über ihm wie ein schlafendes Kind. Er spürte ihren Herzschlag, der mit dem seinen ein polyrhythmisches Gefüge ergab. Beider Atem ging schnell. Ohne ihn anzusehen, richtete sie sich auf, stützte sich an seiner Schulter ab und erhob sich. Verloren stand sie auf dem dunklen Parkett des Wohnzimmers, nah beim glänzenden Flügel. Ihr Haar war zerzaust und fiel an der linken Seite lang über ihre Schulter, die Wimpertusche in Schlieren. Ihr Kinn war rot aufgescheuert, daneben verliefen zwei senkrechte Risse in Richtung Nase, Alterslinien, die von einem jähen Sonnenstrahl beleuchtet wurden. Sie strich ihren Rock glatt, schloss die mittleren Knöpfe der Bluse, drehte sich um und ging, etwas unsicher, in den Flur. Dort, wo sie gestanden hatte, verblieb nur ein kreisrunder Sonnenfleck, der leicht über den Fußboden schwankte.
Marc antwortete prompt mit einer längeren Komposition, einem dreiseitigen sogenannten Frau-Hermanns-Musical, das Tom fortschrieb, mit dem Untertitel» The Everlasting-Match-Fire«, während er auf den kommenden Donnerstag wartete.
Aber seine Schülerin erwartete ihn nicht, jedenfalls nicht besonders. Nicht in der Art, wie er es sich vorgestellt hatte, was er Marc nur in Andeutungen berichtete. Sie öffnete höflich, etwas zerstreut, ließ ihn spüren, dass der Klavierunterricht keineswegs das Wichtigste sei im Leben, behandelte den Lehrer so, als käme er nicht eigentlich unerwartet, aber doch auf eine gewisse Weise ungelegen. Als sie sich in der Eingangshalle gegenüberstanden, sah sie ihn an, etwas länger als notwendig, mit leeren gläsernen Augen, so als versuche sie, sich an ihn zu erinnern, aber vergeblich, denn diese Augen schienen nicht wirklich etwas zu sehen, die gläserne Hülle der Augen schien den Blick aufzuhalten und in sich zurückzulenken.
Nachdem dieser Moment vorbei war, arrangierte sie sich mit ihm. Sie behandelte ihn mit der liebenswürdigen, aber etwas misstrauischen Höflichkeit, mit der man einen Handwerker behandelt, der zwar notwendig ist, aber leider viel Lärm und viel Dreck machen wird. Seine Zunge lag wie Brei im Mund, als sie nebeneinander am Flügel saßen und nur ein klein wenig Luft zwischen ihrer beider nackten Unterarme sich aufhielt. Kein konspirativer Blick, kein geheimer Seufzer, nichts. Sie hat mich vergessen, dachte er und staunte, während Frau Hermanns» Die Träumerei «spielte und sanft ihren Oberkörper im Takt der Musik neigte und bog. Er sagte kaum etwas dazu, trug ihr aber für das nächste Mal bösartig ein Nocturne von Chopin auf, das noch viel zu schwer für sie war, aber Frau Hermanns lächelte nur und nickte professionell, als sie das Stück durchsah, indem sie mit einer musikalischen Handbewegung zwei über die Stirn hinabfallende Haarsträhnen zurückstrich. An Marc schrieb er:
«Wer bin ich, wenn sich niemand an mich erinnert? Werde ich einmal gewesen sein, wenn ich einmal nicht mehr bin? Werde ich existiert haben, wenn sich niemand meiner erinnert? Existiert nicht nur das, woran sich irgendjemand auf dieser Scheißwelt erinnert, das, was von irgendjemandem in die Krämerschubladen der Weltgeschichte hineingetan wird, und der Rest ist nicht geschehen?
Lieber Marc, Du hattest recht. Hermanns is a bitch!
Bitte komm bald wieder, nächstens mehr,
Tom«
Aber Marc kam nicht vor dem Herbst. Und der Sommer verging langsam, rieselte feinsandig durch die gläserne Enge. Frau Hermanns aber harkte ihre scheinbar willkürlichen Markierungsrillen hinein, indem sie Toms dahinfließendes Leben in Klavierstunden mit und Klavierstunden ohne Körperkontakt einteilte.
Und Betty? Was tat sie, bevor sie die Wege der beiden Freunde kreuzen würde — auf den hellen Kiespfaden des Hermannschen Gartens — mit der Unabänderlichkeit schief zueinander stehender Geraden? Was tat sie in jenem langsam verrieselnden Sommer 1992?
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