«Klar«, sagte Tom.
«Klar«, sagte Marc. Am Heß-Todestag dann, fuhr er fort, und er zündete sich eine neue Zigarette an und gab auch Tom Feuer, am 17. August, habe er sich am Vormittag noch schnell ans Klavier gesetzt, einige Skizzen durchprobiert, die er habe ausarbeiten wollen, und sei im Spielen immer weiter in die Musik hineingeraten, wo er nicht so schnell an ein Ende gekommen sei, so dass er auch das Telefon überhört beziehungsweise ignoriert habe, und als er in die Küche gegangen sei, um einen Kaffee aufzusetzen, habe er mit Bestürzung feststellen müssen, dass es vier Uhr am Nachmittag gewesen sei und er den Heß-Aufmarsch und das Gute und auch die dunkelrothaarige Tamara einfach vergessen habe.
«Mit Tamara war es dann jedenfalls aus«, sagte er.»Und ich hab beschlossen, eine Schreinerlehre zu machen. Bloß nichts mit Musik.«
«Aber du bist nicht Schreiner geworden.«
«Nein.«
«Warum nicht?«
«Tja, warum nicht. «Marcs Blick ging in den wolkenverhangenen Stadthimmel hinauf, der das elektrische Licht reflektierte.»Wahrscheinlich weil mein Vater gestorben ist. Und ich hab gedacht, jetzt ist es auch schon egal. Es ist kalt«, sagte er.»Lass uns irgendwo Frauen ansprechen.«
Als der Morgen kam, standen sie auf der Brücke am alten Museum. Beobachteten, wie sich das pechschwarze Wasser rot färbte, wie auf dem Asphalt des Ufers das flache Licht ausfloss. Zwischen den Gebäuden hing bleierne Helligkeit, die nicht von der Sonne herzurühren, sondern aus dem Beton der Straßen aufzusteigen schien.
Während sie übers stille Wasser blickten, dröhnten Technobässe mit dumpfem Druck in den Gehörgängen nach. Der Zigarettenrauch in ihren Kleidern, in ihrem Haar, umschloss sie noch immer, eine Hülle aus abgestandener, verbrauchter Nacht. In einem illegalen Kellerclub in Mitte, der sogenannten» Donnerstagsbar«(kurz» Dobar«), hatte Marc zwei Theaterwissenschaftlerinnen mit einer Selbstverständlichkeit angesprochen, mit der Tom nicht einmal Brötchen einkaufte, woraus sich, abgesehen von einem Gespräch über feministische Filmtheorie, aber nicht viel ergeben hatte, was nicht weiter schlimm gewesen war.
«Hättest du Lust, meine Klavierschüler zu übernehmen?«, fragte Marc auf einmal. Er sah seine verschränkten Hände an, die über das Brückengeländer ragten.»Eigentlich wollte ich nicht, dass sie jemand verdirbt, während ich weg bin.«
«Schreibst du mir?«, fragte Tom, nachdem er den Zettel mit den Telefonnummern eingesteckt hatte. Der Schatten eines Vogels strich glatt übers Wasser.
«Ich schreibe keine Postkarten«, sagte Marc.»Die Post ist langsam, dazwischen kann viel passieren. Ich erklär es dir ein anderes Mal. «Dann hob er die Hand an Toms Schulter, rüttelte sie kurz, strich sich das Haar aus der Stirn, drehte sich um und ging pfeifend durch den Morgen davon. Vogelgezwitscher fiel von den kahlen Bäumen.
Aber es kam doch ein Brief an von Marc. Nichts stand darin über sein neues transatlantisches Leben, sondern, so nannte er es, Gebrauchsanleitungen für die einzelnen Klavierschüler, von denen Frau Hermanns, ansässig im Dahlemer Villenviertel, bald Toms Lieblingsschülerin wurde. Ihr Bild verfolgte ihn noch lange, nachdem sich nach der ersten Unterrichtsstunde mit der hohen Eichentür die ruhige Kühle des Hauses um sie geschlossen hatte wie ein Tresor.
Ihr Mann, so stand es in Marcs Brief geschrieben, Manager eines internationalen Konzerns, war selten daheim, und da die Kinder inzwischen eigene Wege gingen, hatte sie sich einen neuen Zeitvertreib gesucht, der die stockenden Nachmittagsstunden zwischen Zierkirschen und Wohnzimmersitzgruppe im riesigen Anwesen verscheuchte: das Klavierspiel. Sie sei nicht unbegabt, aber man müsse sich vor ihr in Acht nehmen, sonst ziehe sie einen mit Hilfe ihrer kurzen Röcke in eine geschmückte Leere hinein, in der man vergehe wie ein Streichholzflämmchen in einem Vakuum. Auch sei sie eine begnadete Schauspielerin, sei aber unter ihrem Schauspielerinnenkostüm in Wahrheit die tragische Figur der Post-Postmoderne zwischen Einbauküche, Toaster, Viersternegefrierfach und Kontoauszug, das Symbol des gegenwärtigen Menschen, der sich von innen her aushöhlt, sich entvitalisiert, also letztlich opfert, um sich in die Reihe seiner Haushaltsgeräte und Dinge einzugliedern, so Marc aus Übersee.
Sie empfing ihren neuen Lehrer höflich, aber so, als nähme sie nur seinen Umriss wahr, die Chiffre eines Klavierlehrers, aber nicht ihn selbst. Er fühlte sich gläsern und leer in ihrer Gegenwart, als flösse ihr Blick durch ihn hindurch, ohne Notiz von ihm zu nehmen.
Frau Hermanns war von undefinierbarer Jugendlichkeit. Als sie im weiten Flur auf ihn zugeschritten kam, erinnerte sie ihn an jene, aus deutschen Krimiserien bekannten, ebenso schönen wie mysteriösen Witwen mit dem melancholischen Blick, wie er durch eine große Trauer oder eine große Schuld entsteht. Ihr Mann aber war keinem Verbrechen zum Opfer gefallen, sondern in diversen Konzernzentralen oder Hotelzimmern oder an anderen Orten untergetaucht. In der Fotosammlung auf dem Rücken des Steinwayflügels befand sich auch ein Bild von ihm.
«Das ist Volker, mein Mann«, sprach sie. Sie sagte es lächelnd, als sie nebeneinander am Steinway Platz nahmen.»Das ist mein Sohn, meine Tochter. Sie studieren beide in den USA. Udo studiert BWL, Patrizia macht Schauspiel. «Außerdem die Fotos der Irish Setter, Raffael, genannt Raffi, Leonardo, genannt Leo, und Nelson, genannt Nelson.
Als er das bereits aufgeschlagene Notenheft, die Kinderszenen von Schumann, durchblätterte, konnte Tom es nicht verhindern, dass sein Blick einmal auf die Knie seiner Schülerin fiel, die unter dem Schlitz des beigefarbenen Rocks plötzlich in einem keilförmigen Ausschnitt sichtbar wurden. Die Beine, von einer Seidenstrumpfhose beglänzt, waren muskulös und gut geformt, Tennisspielerinnenbeine, wie er dachte, und auch ein Tennisspielerinnenröckchen hätte ihr unbedingt gestanden. Die Schülerin, die das Auftreffen seines Blicks zu bemerken schien, bemühte sich, den Spalt zu schließen, indem sie rasch darüberstrich. Sobald sie jedoch die Hände wieder auf die Tasten legte, öffnete sich der Rock erneut. Der Rock, dachte Tom, ist schön, aber definitiv nicht geeignet für den Klavierunterricht.
Er müsse wirklich entschuldigen, sagte sie plötzlich, denn es war ihr eingefallen, dass sie ihm noch nichts zu trinken angeboten hatte, und mit der Außenseite ihres Zeigefingers beseitigte sie eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Eilig ging sie davon, ohne noch eine Note gespielt zu haben, indem sie den Rock glatt strich und mit ihrem Becken Schleifen in die Luft hineinschrieb.
Tom aber blieb allein zurück. Vor der Glasscheibe glitt lautlos ein Hund vorüber. Zwei weitere, nahezu identische Hunde, die mit einem orangeroten Ball spielten und geräuschlos im tiefen Grün der Tannen verschwanden.»Hier haben wir alles«, rief Frau Hermanns, deren rhythmisch sich nähernde Schritte die Stille zertrümmerten. Während sie den Bioapfelsaft, wie sie betonte, in zwei hohe schlanke Gläser goss, bemühte sich Tom, nicht in ihr Dekolleté zu sehen, was sich allerdings angeboten hätte, denn sie trug eine dunkelseidene Bluse, hauteng, deren oberste Knöpfe geöffnet waren. Vielleicht sah er aber dann doch hinein, während er sich überlegte, warum es eigentlich nicht erlaubt war, in Dekolletés hineinzusehen, da dieselben ja doch eigentlich dafür hergerichtet waren, dass man in sie hineinsah.
Unschlüssig gingen ihre schlanken Finger über die Tasten. Tom fragte, ob sie das Stück geübt habe. Nachdrücklich nickte sie, fast empört. Plötzlich senkte sie den Kopf und seufzte.
Sie sei einfach nicht dazu gekommen. Das Haus, der Garten, flüsterte sie, indem sie den Kopf gesenkt hielt, so dass Tom ihre Nackenwirbel sah, die oberhalb der Schulterblätter rund hervortraten. Der Garten, das Haus, die Tiere, wiederholte sie, es sei zu viel, sei einfach zu viel. Seitlich, mit verschobenem Mund, blies sie sich eine Haarsträhne von der Wange. Tom spürte am Hals ihren Atem, der dezent nach Parfum roch. Plötzlich hob sie den Kopf, ein Blick löste sich von ihr und sprang zu ihm hinüber, fixierte ihn aber nicht, sondern pendelte hastig zwischen seinen Augen. Zwei Glasmurmeln, ihre Augen, hin und her rollende, graue Glasmurmeln, dachte Tom und versuchte, anhand der Kinderfotografien auf dem Flügel ihr Alter zu berechnen.
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