«Ich bin übrigens Marc«, sagte Marc und streckte ihm die Hand entgegen, als sie rauchend im Hof standen, zwischen Lieferwagen und Containern, und den Mond betrachteten, der wie ein halber Perlmuttknopf im Himmel steckte und ein stilles Licht verströmte.
«Entschuldige wegen des Kaffees«, sagte Tom.
«Macht nichts, sieht viel besser aus so. «Marc deutete auf sein Hemd, kniff die Augen zusammen, und während er den Rauch in einer dünnen Linie in die Nacht blies, lächelte er.
«Volare «und» Azzurro «spielten sie jeweils sechs Mal an diesem Abend, denn diese beiden Titel waren die einzigen, die dem Publikum wahrnehmbare Reaktionen entlockten. Mit steigendem Alkoholkonsum wurde auch vereinzelt in die Hände geklatscht. Ob man» Volare «und» Azzurro «tatsächlich gut fand, war schwer zu sagen, wahrscheinlicher war, dass man das Bekannte hochschätzte, weil dieses ein Heimatgefühl herstellte, ein frohes Wiedererkennen, wie die McDonald’s-Filiale mitten im Dschungel.
Höchste Priorität aber besaß an diesem italienischen Abend das Buffet, weil es im Eintrittspreis inbegriffen war und man es im Bauch nach Hause tragen konnte, während die Musik noch im Klingen verklingt und vergeht.
Für die Musiker allerdings war kein Catering vorgesehen, da dies zu verlangen Richie Miller, der Bandleader, bei den Vertragsverhandlungen versäumt hatte. Tom und Marc zogen sich deshalb in den Setpausen zwischen die Regalwände zurück, um sich vom Süßigkeiten-, Chips- und Alkoholsortiment zu nähren, was natürlich strengstens verboten war. Sie fühlten sich sehr subversiv.
«Warum machen wir das hier eigentlich?«, sagte unvermittelt und kaum verständlich Tom, der sich kurz vorher eine Handvoll Erdnussflips in den Mund gedrückt hatte.
«Was meinst du?«, fragte Marc.»Essen?«Er hielt eine leere Chipstüte über seinen Kopf und fing die letzten Krümel mit dem Mund auf.»Um uns zu erhalten, um nicht zu sterben, nehme ich an.«
«Musik!«, sagte Tom kauend.
«Ach so, Musik«, sagte Marc und hob eine Augenbraue. Er zerknüllte die Chipstüte, betrachtete sie noch immer mit erhobener Braue, zuckte die Schultern, als hätte er sich diese Frage noch nie gestellt.»Um Frauen kennenzulernen, schätz’ ich«, sagte er und nahm einen Schluck Champagner.
«Hast du denn heute irgendwelche kennengelernt?«, fragte Tom.
«Bis jetzt nicht. «Marc lächelte.
«Also dann? Warum? Um unsere Eltern zu ärgern? Um uns selber zu ärgern? Um unser Leben lang kostenlos Chips fressen zu können?«
Marc lachte.»Ich weiß es nicht«, sagte er, strich sich das Haar aus der Stirn, und dann änderte sich auf seinem Gesicht die Lichtstimmung, es verdunkelte sich, und hinter seinen Pupillen zogen wechselnde Gedanken wie Wolken schnell dahin, bevor er sagte:»Doch, natürlich weiß ich es: Um mit dem Ganzen hier«, er machte eine kleine Geste mit der Hand, indem er sie einmal umdrehte, so dass die Handinnenfläche nach oben wies, als wollte er prüfen, ob es regnete,»um mit allem hier, mit dem Ganzen hier, möglichst wenig zu tun zu haben. «Er hob die Schultern.»Um zwischen den Regalen sitzen zu können, um übersehen zu werden, weil Musiker«, so Marc, jetzt wieder lächelnd, mit wolkenlosen Augen,»machen nirgends mit, sie spielen auf Hochzeiten, aber sie heiraten nicht, sie spielen in Einkaufscentern, aber sie kaufen nicht.«
«Aha«, sagte Tom und lachte.»Sie spielen auf Beerdigungen und sterben nicht, oder was?«
«Ja«, sagte Marc. Er sah ihn an, als würde er ihn plötzlich wiedererkennen.
An diesem Abend tranken sie auf die Unsterblichkeit mit einem 1987er Moët & Chandon.
«Es gibt übrigens noch einen anderen Grund«, sagte Marc, als sie an der Grenze zwischen Nacht und Tag in seiner Weddinger Einzimmerwohnung saßen, durch deren niedrige Fenster schon der graue Morgenhimmel hereinfiel. Das elektrische Deckenlicht war unnötig geworden, brannte aber noch.
«Die Zeit ist weg für einen Moment«, sagte er.»Nicht so sehr beim Musikmachen, aber beim Musik denken «, fuhr er fort. Habe man eine Musik ganz im Kopf, eine Sinfonie oder Sonate, ein Lied, sagte er, wenn alle Takte gleichzeitig, sozusagen räumlich vor einem stünden, einer neben dem andern, dann existiere für diesen Moment keine Zeit.»Man überlistet die Zeit, indem man sie sich auf einmal vergegenwärtigt.«
«Also brauchst du den hier gar nicht?«, sagte Tom, der an Marcs Flügel saß und mit andächtig geschlossenen Augen einen Dominantseptakkord, den Tristanakkord, in verschiedenen Lagen erklingen ließ. Sie hatten die große Plattensammlung des Gastgebers durchsucht, waren nach Johnny Cash bei Wagner hängen geblieben, obwohl Marc Wagner hasste, wie er sagte, ihn heute so sehr hasste, wie er ihn früher einmal geliebt hatte, als Kind, als er sich am Bayreuther Festspielhaus, in dessen Nachbarschaft er aufgewachsen war, tagelang, wochenlang, die Beine in den Bauch gestanden hatte, wie er sagte, nur um einen einzigen Ton aufzufangen, indes die glatzköpfige oder dauergelockte, aber leider taube, durch irgendeine vermeintliche Wichtigkeit dorthin gezwungene Hörerschaft, die eigentlich eine Nichthörerschaft gewesen sei, drinnen schnarchte.
Der Flügel nahm fast das ganze Viereck des winzigen Zimmers ein. Um ihn herum standen leere Bierflaschen über den Teppichboden verteilt.
«Theoretisch kannst du ihn haben«, sagte Marc. Er saß auf seinem Bett, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Handflächen gelegt. Zwischen Mittel- und Ringfinger klemmte eine selbstgedrehte erloschene Zigarette, die er offensichtlich vergessen hatte. Er blickte, während er redete, mit zusammengekniffenen Augen auf einen unsichtbaren Punkt, der gleichzeitig in der Mitte des Zimmers und weit dahinter zu liegen schien. Sobald man Musik zum Klingen bringe, sagte er, sei man wieder in der Zeit. Sei Teil der Zeit, die einen mitnehme, im wahrsten Sinn des Wortes, und nur wenn man Musik auf einmal denke, wie ein Gemälde oder eine Statue, stehe sie, stehe man selber, außerhalb.
«Es ist«, sagte er und blickte zu Tom am Klavier hinüber,»es ist, als ob du einen ICE nimmst und für einen Moment neben die Gleise stellst. «Er lächelte und schloss die Augen, als hätte er für immer alles gesagt. Er hörte oder er schlief, das Kinn in die Handflächen gebettet, während Tom weiterspielte und Sehnsuchts- und Liebesmotiv modulierte und darüber phantasierte und die Harmonieverbindungen wirklich an ihm vorüberflogen wie die Zeit und die Landschaften bei einer Zugfahrt, Berge und Meer und einige Jahrhunderte, bevor er, verlegen fast, als hätte man ihn bei einer sehr geheimen Tätigkeit ertappt, die Hände, die das angerichtet hatten, in den Schoß legte und vorwurfsvoll ansah. Er wusste gar nicht, wie lang er gespielt hatte. Marc aber hielt noch immer die Augen geschlossen.
«Er passt zu dir«, sagte er plötzlich.»Wer weiß, vielleicht schenke ich ihn dir mal.«
War das schon Freundschaft? Tag eins ihrer Freundschaft, oder eher eine Vorstufe davon, ein diffuses Gefühl der Sympathie, weil schließlich Freundschaft, wie er annahm, nicht wie eine Blume, exotische Riesenblüte, im Zeitraffer aus dem Wüstenboden der Einsamkeit explodierte, sondern sich wie die Musik entlang der Zeit entwickelte, auf das Vergehen der Zeit angewiesen war in der Art eines Langstreckenläufers? Denn ohne Zeit keine Laufwettbewerbe, ohne Zeit kein Pflanzenwachstum, ohne Zeit keine Freundschaft, ohne Zeit kein gar nichts, wie er annahm, aber er war sich nicht sicher.
Er stand in Genua, in tiefer Gassenschlucht, rauchend, während die Nacht ihn überwölbte und all die Gedanken an Marc, an das Einkaufszentrum, an die Zeit, an die Freundschaft, in wenigen Minuten, scheinbar unbeeinflusst von ihm selbst durch seinen Kopf zogen. Als er weiterging, in Richtung Meer, versuchte er, die Gedanken bewusster zu setzen, sie zu steuern wie seine Schritte. Er war sich heute wie damals, dachte er, nicht sicher, ob es eine Freundschaft auf den ersten Blick gab. Er war kein Freundschaftsexperte, hatte vor Marc eigentlich nie einen Freund besessen, wenn überhaupt, waren es mehrere Freunde gewesen, sogenannte» Cliquen«, mit denen man im Halbkreis auf dem Schulhof herumstand und heimlich rauchte oder abends in Bushäuschen saß, Bier trinkend, Wein aus Tetrapak-Kartons. Er selbst hatte sich immer etwas abseits aufgehalten, war zu diesen Treffen mehr aus Pflichtbewusstsein erschienen, weil, so hatte er gedacht, diese Treffen, die man absolvierte, zum Leben dazugehörten wie die Schule, die man ebenso absolvierte, kein Mensch wusste, warum, oder allabendliches Zähneputzen, sonntägliche Kaffeebesuche bei Verwandten.
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