Von nebenan rauschte es noch immer. Diedrich, wie Tom oft gedacht hatte, musste von Natur aus sehr schmutzig sein, weil er so oft und so lange duschte. Es rauschte, schien mitten in der Wand zu rauschen. Im Telefonhörer krächzte J. C. Er stellte sich vor, wie J. C.s Stimme den Abfluss hinabschwämme, in die Unterwelt der Kanalsysteme und dort vergurgelte. Er legte sich wieder diagonal auf das Bett, benutzte seine hinter dem Kopf verschränkten Arme als Kissen und versuchte, an Neapel zu denken, du Nymphe Parthenope, im ewigen Mittagsschlaf. Bevor er dorthin käme, musste er zum Friseur, außerdem Kleider einkaufen, was er vor der Abreise tatsächlich vergessen hatte. Statt zu packen und einzukaufen, hatte er sich in einem Kinocenter den ganzen Nachmittag diverse Kinderfilme angesehen, war dann auf ein Abendbier in einer Kneipe hängen geblieben, irgendwann gegen den Wind nach Hause gelaufen und hatte wieder und wieder Bettys Anruf abgehört. Er hatte dem brüchigen Rhythmus ihrer Stimme gelauscht, den Pausen zwischen den Wörtern, bis er alles adäquat hätte mitskandieren können.»Hier ist Betty. (Räuspern) Betty Morgenthal. «Dann die Zahlen. Nach der sieben hatte sie etwas Platz gelassen, indem sie die Luft in zwei kurzen Zügen durch die Nase einsaugte, die restlichen Nummern hatte sie aneinandergereiht wie eine enggliedrige Kette.
Er schloss die Augen. Er sank ins Dunkle. Es rauschte. Die Brandung kam näher, kam durch die Wand, schien ihn abzuholen. Er watete durch hüfthohes Wasser. Hoch auf dem Meer sah er Betty, in einem Boot, sie ruderte gegen die wilden Wellen, singend, das Lied von der Forelle. Und neben ihr stand plötzlich, wie eine Statue, die aber einem schlanken, glitzernden, aufrecht gehenden Fisch ähnelte, Lutz Wegener im Boot. Wegener streckte die flossenhafte Hand über die Wellen, bezwang das Meer, bis es ruhig, glatt und durchsichtig wurde wie eine Glasscheibe, durchquert von Sprüngen. Er setzte sich neben Betty, deren Haar bronzefarben feucht auf ihre Schultern floss. Sie hatte Heddas Gesicht. Wegener legte seine Hand auf ihr Knie. Er sagte:»Der Mond. «Mit den Fingern trommelte er auf ihrem Knie herum, als wäre sie ein Klavier. Klopfendes Geräusch. Sie schien aus Holz zu sein, innen hohl. Tom versuchte, das Boot zu erreichen, zu rennen, konnte es aber nicht im tiefen Wasser, er breitete die Arme aus. Das Klopfen wurde lauter. Ein Rufen:
«Tom!«Wieder das Klopfen. Tom sah: Weiß, eine weiße Decke, ein rosarotes Stuckgesims. Er lag diagonal auf einem Bett, ihm gegenüber im Bildschirm war die Loren, in einem hohen Saal, tanzend.
«Tom, schläfst du?«Es war Didi.
«Ja! Verdammte Scheiße!«
«Hast du einen Fön dabei?«
«Nein, verdammte Scheiße!«
Eine halbe Stunde später liefen sie durch Genua. Frühlingsluft strich ihnen mit blauen Fingern durchs Haar. Abendlicht segelte zwischen den hohen Palästen aufs Kopfsteinpflaster. Renaissance und Pestilenzgeruch in den dunklen Portalen der Palazzi. Holler meinte die jahrhundertealten Echos lateinischer Bußgesänge zu hören in Gassen voll Fischgeruch, Tanggeruch. Orgeldonner aus Kirchen, Kirchen, inflationär, und wieder Kirchen, deren Kuppeln im letzten Glühen des Himmels erröteten wie die Gesichter verliebter Mädchen, dachte er, bevor sie bleich und steinern wurden und in der Dunkelheit verloschen. Und plötzlich standen Nachtlichter im schwarzen Himmel: Campari, Banco di Roma, grünes Blinken, rotes Blinken, und Verkehr toste auf entfernten Hauptstraßen, und nahes helles Kreischen der Vespas, fliegende Lichter über dem Kopfsteinpflaster.
Didi ging zielstrebig, hatte den Kopf tief in einen Stadtplan gebeugt, schien genau zu wissen, wohin, während er selbst sofort untergegangen wäre in den Winkeln und Gässchen dieser düsteren Stadt, was ihm verlockend erschien, nichts zu kennen, nichts zu wissen, kein Ziel, keinen Anhaltspunkt zu haben.
Sie aßen in einer Pizzeria zu Abend (»Pizza Vierjahreszeiten«, bei deren Bestellung sich Diedrich seinen uralten Deutschenwitz» Vier Bahnhöfe / Quattro Stazioni «statt» Quattro Stagioni «zwinkernd zu sagen, nicht verkneifen konnte, was der Kellner erst nach wiederholter Erklärung verstand und offenbar nicht besonders komisch fand) und liefen danach, auf der Suche nach einer Kneipe, durch die dunkle, hohe, kaum beleuchtete Altstadt. Didi hatte sich wieder tief in den Stadtplan gebeugt (er war schwach fehlsichtig, hätte aus ästhetischen Gründen aber niemals eine Brille aufgesetzt, weswegen ihm Tom ab und zu einen Straßennamen vorlesen musste), obwohl sie, wie er dachte, doch gar kein definiertes Ziel hatten, und er wunderte sich über die Menschen, die bei jedem Schritt, den sie machten, wissen wollten, wohin sie gingen.
Endlich saß man in einer Kneipe. Diese war einem irischen Pub nachempfunden. Tom hatte das Gefühl, viel Bier trinken zu müssen. Didi führte ein Gespräch. Ob J. C. H. (er sprach es englisch) ihn inzwischen erreicht habe, wollte er wissen, und der werde sich schon wieder beruhigen, habe sich bisher immer wieder beruhigt. Auf der Tanzfläche hopste ein jugendliches Publikum zu dröhnenden Bässen herum. Eine Unterhaltung wurde zunehmend erschwert, so dass Tom nur einen Teil hörte von dem, was sein Kollege redete. So eine» Kreativpause«, hörte er, drei Monate, tue richtig gut, um auf andere Gedanken zu kommen. Andere Gedanken, ja , dachte Tom, aber: was für welche. Und was er überhaupt die ganze Zeit gemacht habe.
«Nichts«, sagte Tom zu Diedrich, nachdem er ihn lange, scheinbar nachdenklich, angesehen hatte.
«Nichts?«Diedrich lachte, er glaubte ihm nicht.»Irgendwas musst du doch gemacht haben?!«
Tom zuckte mit den Schultern,»Nichts«, sagte er,»das heißt, gelebt halt, geatmet, gegessen, geschissen und so weiter. «Und sein Kollege lachte wieder, schüttelte wiederholt den Kopf, und die Locken sprangen um sein Gesicht, während er lachend in das vor ihm stehende Bierglas hineinschaute und tat, als wäre Tom ein Komiker.
Der hingegen, weit davon entfernt, komisch zu sein, brauchte ein Telefon. Auf dem Zimmertelefon im Hotel nämlich konnte man nur angerufen werden, worauf er gut und gerne hätte verzichten können, sein Handyakku war seit Wochen leer, und er hatte sein Aufladegerät vergessen. Diedrich würde er nicht fragen. Diedrichs Scheinwerferaugen sondierten inzwischen hell und genau den näheren Umkreis, tasteten alles Weibliche ab.
Er müsse mal raus, sagte Holler.
Didi fältelte die Stirn, aber Holler war schon aufgestanden. Nacht umschloss ihn mit einer transparenten Schicht, die dichter und dunkler wurde, sobald er sich vom Pub entfernte und in ein schmaleres Seitensträßchen tauchte. Die Glut seiner Zigarette wies ihm den Weg. An einer Häuserecke wartete ein Grüppchen Jugendlicher mit Vespas auf die Zukunft. Holler lief und lief, ohne jemals an einer Telefonzelle vorbeizukommen. Er überquerte steinerne Plätze mit tosenden Brunnen unter den Leuchtreklamen, fädelte sich wieder in die Schwärze enger Gässchen, ging hallenden Schrittes unter Arkadengängen, wo Wolken von Stimmengewirr und Kaffeegeruch aus kleinen Bars trieben. Er genoss das Gefühl, fremd zu sein in dieser Stadt. Gab sich der Illusion hin, ganz neu anfangen zu können, und doch hatte er das Gefühl, mit jedem Schritt, den er in die Tiefen dieser dunklen Stadt setzte, weiter in die verschachtelten Räume seiner eigenen Vergangenheit hinabzusteigen.
Ich muss jemanden fragen, dachte er, und noch bevor sein Gedanke zu Ende war, fragte er, indem er sich über seine Kurzentschlossenheit sehr wunderte, einen Geschäftsmann mit Mantel und Aktenkoffer und einer bedeutend jüngeren Begleiterin, der sein Anliegen offenbar peinlich war, so dass sie den Blick wandte.»Direction of the Sea«, sagte der Geschäftsmann, dort gebe es Telefone, eines neben dem andern, in kleinen Läden von Marokkanern, von Arabern, die auch von etwas leben müssten, fügte der Geschäftsmann entschuldigend hinzu.»Danke«, sagte Holler, fast überschwänglich,»vielen Dank«, wiederholte er, als hätte der Geschäftsmensch ihm seine Begleiterin überlassen, und er lief einige Schritte rückwärts, bevor er sich umwandte und endlich in Richtung Meer ging, wo Betty Morgenthal saß, Marcs schöne Freundin, mit sandfarbenem Blick, und auf seinen Anruf wartete.
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