Zu Hause gefühlt hatte er sich nicht im Halbkreis der Schulfreunde, was er keineswegs als Mangel empfand, da er sich nirgends zu Hause fühlte, am wenigsten zu Hause, außer in seiner Dachkammer, wo das Klavier stand, als zufälliger Fremdkörper in diesem verschlossenen Eternithaus, weil sein Vater, Schreibmaschinen-Holler, aus der Konkursmasse eines zahlungsunfähigen Klienten nicht eine Sonnenbank oder ein Ledersofa, sondern eben zufällig ein Klavier herausgezogen hatte, wie er es formulierte. Nur wenn dessen Sohn in der Dachkammer am Klavier saß, weit oben, weit weg von allem, als Nachbar allein der Wolken, die am schrägen Fenster entlangstrichen, über dem Lärm der ländlichen Rasenmäher, der Kärcher, des Staubsaugers, fühlte er sich aufgehoben, erleichtert, wie jemand, der aus einem viel zu engen, dazu kratzenden Kostüm hinaussteigt, um endlich die eigenen Kleider wieder anzuziehen.
Bei Marc hatte er zum ersten Mal den Eindruck gehabt, in den weiten Joggingklamotten seiner eigentlichen Seele unterwegs sein zu dürfen; seine Worte nicht planen zu müssen, bevor er sie aussprach, sie nicht auf die innere Goldwaage legen zu müssen, wie früher, da der Halbkreis der Freunde den Kopf regelmäßig schräg gehalten hatte, wenn er etwas sagte, als höre man nicht richtig, bevor man, meist über anderes, weiterredete. Und so ging es ihm letztlich auch bei seinem Jazzstudium, wo er sich immer vorkam wie jemand, der im Unterschied zu allen anderen das Wesentliche nicht kapiert hatte.
Er dachte an den zweiten Tag ihrer Freundschaft, der vorerst auch der letzte gewesen war. Er selbst hatte die langsamen Nachmittagsstunden in seinem Stammlokal in der Knaackstraße über sich ergehen lassen, weil in seiner Wohnung schräg gegenüber die Öfen schlecht zogen, weil die riesigen, aber billigen Räume überhaupt kaum zu beheizen waren im Winter und weil sein Mitbewohner Björn, der beim Film arbeitete, gewohnheitsmäßig überall gleichzeitig, aber niemals zu Hause war. Wie meistens am stillen Nachmittag, wenn das Lokal fast leer war, hatte er an seinem Lieblingsplatz am Fenster gesessen. Als er nachsah, ob das Grau vor den Fenstern bereits die ausreichende Dichte für ein erstes Bier erreicht habe, erkannte er Marc, der über den dämmrigen Platz auf ihn zukam, die Hände in den Taschen, die Lippen gerundet, als pfiffe er eine Melodie, und dieser über den Platz gehende Marc war einer derjenigen, die er später in der Vitrine seines Gedächtnisses aufbewahren sollte, nahezu gegenständlich, wie seine Mutter stets Andenkenfigürchen in den Wohnzimmervitrinen aufbewahrt und regelmäßig abgestaubt hatte.
Auch er staubte oft die Erinnerungen ab.
Er sah Marc durch das Fenster mit langen langsamen Schritten auf sich zugehen. Er dachte: Einseitige Freundschaft muss noch viel trauriger sein als einseitige Liebe. Er lachte, als Marc seine Nase an die Scheibe drückte, den Blick mit beiden Händen abschirmte und suchend direkt zu ihm hineinschaute, aber so tat, als könne er ihn nicht sehen. Sie spiegelten sich ineinander.
Tom bemühte sich, das Lächeln auf seinem Gesicht unter Kontrolle zu bringen. Seine Freude erschien ihm selbst etwas übertrieben. Sie saßen einander gegenüber und schwiegen einige Minuten, was ihm keineswegs unangenehm war, denn jemanden zu haben, mit dem man gut schweigen konnte, war alles andere als selbstverständlich. Er habe es sich gedacht, sagte Marc, nachdem er zwei Bier bestellt hatte, ihn hier zu treffen. Er komme nämlich, um sich zu verabschieden. Dann die knappe Erklärung, er habe durch Zufall, wie er es nannte, ein Stipendium für junge Komponisten erhalten, das ihn für ein halbes Jahr nach Berkeley / Kalifornien schicke. Für Marc schien das Thema damit erledigt zu sein, denn sein Blick wanderte, als wolle er von dieser Nebensächlichkeit ablenken, an einen Tisch im dunkleren Innern des Raums, wo zwei Mädchen saßen, die sich mit großen Gesten ihrer Hände immer wieder das lange Haar aus den Gesichtern strichen. Zigarettenrauch stieg in bläulichen Schlingen über ihre Köpfe. Marc hob eine Augenbraue, als er sie taxierte, wartend, bis eine seinen Blick kurz erwiderte, mit einem Lächeln, das wie ein flüchtiger Lichtschein sofort wieder hinter der dunklen Wolke ihres Gesichts verschwand. Ein feines Grinsen zog über Marcs Mund, als er sich über den Tisch zu Tom hinüberbeugte und ihn von unten ansah.
«Die da drüben«, flüsterte er, dann schwieg er, als wäre alles gesagt.
Tom verstand nicht.
«Du merkst es echt nicht. Die Braunhaarige. Sie schaut dich die ganze Zeit an.«
«Quatsch.«
Marc lächelte.»Es freut mich natürlich, dass du dich lieber mit mir unterhältst«, er zündete sich eine Zigarette an, gab auch Tom Feuer, und sein helles Gesicht erschien im plötzlichen Licht der Flamme noch schärfer gezeichnet, feiner.
«Das ist …«, Tom räusperte sich,»… das mit dem Stipendium ist toll!«
Marc aber blies den Rauch in Richtung Tischplatte.
Weil er Lust hatte, etwas zu laufen, wie er sagte, spazierten sie durch die nachtfeuchten Straßen, an deren Rändern die schwarzen Kulissenwände der Häuser standen, von Licht durchlöchert. Straßenbahnen kreuzten und zerfurchten hell die Nacht. Grünstichige Dönerreklamen. Sie redeten viel, Belanglosigkeiten, Albernheiten, als ob sich ein ernsthaftes Gespräch nicht mehr lohnte, angesichts des nahenden Abschieds. Trotzdem dehnten sie den Abend aus bis in den Morgen, so lang, bis die Nacht dünn wurde. Sie aßen Pommes und tranken Dosenbier. Zählten die Namen und Haarfarben ihrer verflossenen Freundinnen auf, bei Marc waren es mehr, bei Tom weniger, obwohl er wirklich alles mitberechnete, was ihm einmal einen Kuss oder auch nur einen tieferen Blick anvertraut hatte. Sie benannten die Berufe, die sie hatten ergreifen wollen: Lokomotivführer (Marc), Lokomotivführer (Tom), Anästhesist wegen der Drogen (Marc), Dirigent wegen der Frauen (Tom), Holzfäller wegen des Waldes (Marc), Musiker wegen der Musik (Tom), Schreiner wegen des Erschaffens (Marc). Aber als sie im Humboldthain auf dem Flakturm standen, der höchsten Erhebung des Parks, einem tagsüber stark frequentierten Aussichtspunkt, in dessen Innern sich aber ein ehemaliger, für 350 Personen Raum bietender Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg befindet, wie Marc Tom erklärte, der es gar nicht gewusst hatte, und als sie rauchend über den schlampig daliegenden, von der Dunkelheit der Parks und Grünanlagen und Brachen und stillgelegten Fabriken zerrissenen Lichtteppich der Stadt hinweg zum blauschwarzen Horizont blickten, erzählte Marc scheinbar unvermittelt, vielleicht weil das Stehen auf einem Aussichtsturm und das Hinausblicken auf den Horizont die Gedanken über Alltägliches hinaushebt oder das Thema passend erschien, seine, wie er es nannte, Wunsiedel-Geschichte. Er rauchte. Er lehnte mit der Stirn an der Eisenvergitterung, die Selbstmörder davon abhalten sollte, sich in die Tiefe zu stürzen. Er blies den Rauch seiner Zigarette in die Nacht. Die Glut knisterte, als er zog.
Es sei sein Abiturjahr gewesen, sagte Marc. In der Schule, wie mehr oder weniger in allen Schulen, habe es damals einen politischen Aktionskreis gegeben, dem er angehört habe. Dieser politische Zirkel habe im Sommer 1988 anlässlich des zum ersten Mal stattfindenden Rudolf-Heß-Gedenkaufmarsches eine Busreise ins nahe gelegene Wunsiedel organisiert, um den Nazis eine Demonstration der Guten entgegenzusetzen. Marc, zur selben Zeit in eine äußerst politische Mitschülerin namens Tamara verliebt —»dunkelrotes Haar«, warf Tom ein, Marc nickte und lächelte —, er selbst, wie er sagte, habe sich lautstark für die Busexpedition nach Wunsiedel eingesetzt, ja habe sie selbst eigentlich initiiert, die Presse informiert, die Busse bestellt, und alles — natürlich auch wegen der Nazis — hauptsächlich aber, wie er Tom gegenüber zugab, wegen der dunkelroten Tamara.
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