Pål H. Christiansen
Die Ordnung der Worte
Roman
aus dem Norwegischen von
Christine von Bülow
Lindhardt & Ringhof
»Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.«
ÁLVARO DE CAMPOS
Für die Morgentoilette brauchen Frauen einfach etwas länger. Manche Männer machen deshalb einen Mordszirkus. Sie ereifern sich und lassen ihrer Ungeduld freien Lauf durch Schmähungen und tätliche Angriffe auf alles, was ihnen in die Quere kommt. Aber hilft es denn, vor Ungeduld gegen die Badezimmertür zu treten oder damit zu drohen, schon mal alleine loszugehen, in der Hoffnung, damit die Wartezeit zu verkürzen? Macht das die Sache nicht bloß immer schlimmer, die Wartezeit schwerer erträglich? Statt sich einfach hinzusetzen und locker zu bleiben, bis die Zeit reif ist. Neben der Fähigkeit, korrektes Norwegisch zu schreiben, ist das eins der wichtigsten Dinge, die das Leben mich gelehrt hat.
Ich saß bei Helle in der Küche und horchte auf das laufende Wasser im Badezimmer. Ging ich nicht recht in der Annahme, dass sie gerade dabei war, sich die Haare einzuseifen? Dass sie das lebensspendende Shampoo mit kräftigen Fingern in die Kopfhaut einmassierte? Darauf würden das Spülen und die Pflegekur folgen, und dann wäre der Rest des Körpers an der Reihe.
Die Uhr an der Wand stand auf halb neun. Helle hatte gerade eine aktive Phase und wollte anfangen, die Küche zu renovieren. Der Kühlschrank stand mitten im Zimmer, zusammen mit dem Gewürzregal, der Pinnwand und einer Reproduktion von Gauguin, die eine Frau mit einem Kind auf dem Arm darstellte. Soweit ich verstanden hatte, wollte Helle die Wände grün streichen, während sie für die Küchenschränke den Rotton gewählt hatte, der ihrer Meinung nach der ursprünglichen Farbe entsprach.
Eine Sache hat mich das Leben in Bezug auf Frauen gelehrt, dachte ich. Sie lullen sich ein in dem Glauben, dass das Leben nach einer Renovierung ein besseres Leben wird, ein Leben voll unendlicher Möglichkeiten. Die Wahrheit ist jedoch, dass nur harte Arbeit zu den Pforten des Himmels führt.
Ich ging ins Wohnzimmer und stellte mich vor das Bücherregal. Die Balkontür stand weit offen, und die Geräusche der Stadt drangen von der Straße herauf: Geschrei von Kindern auf dem Weg zur Schule, die Straßenbahn, die vorbeifuhr, der Lärm von einem Müllwagen, der sich von Haus zu Haus bewegte.
Über Helle ließ sich enorm viel Gutes sagen, aber was die Systematik in ihrem Bücherregal betraf, war sie ein hoffnungsloser Fall. Vor mir stand zum Beispiel ein Buch wie Erogene Zonen im Mittelalter von einem gewissen Howard Humpelfinger. Ich zögere nicht zu behaupten, dass der Verlag der Menschheit einen großen Dienst erwiesen hätte, wenn die gesamte Auflage eingestampft worden wäre. Das Buch war ein Machwerk, derart strotzend vor Druckfehlern, dass es schier unlesbar war. Helle hatte darauf bestanden, es neben dem Wörterbuch des Riksmål einzuordnen, das sich jener Sprachform unseres Landes widmet, die aus unserer dänisch-norwegischen literarischen Tradition hervorgegangen ist, – so als wäre das eine ganz natürliche Sache, so wie Butter aufs Brot zu schmieren.
Das Riksmål Wörterbuch der Norwegischen Akademie für Sprache und Literatur ist ein phantastisches Hilfsmittel. Hier findet man Antworten auf alles, was man sich nur fragt, mit einer solchen Präzision und einem Sprachgefühl, dass einem fast schwindelig wird. Wohl war die Ausgabe, die ich nun aus Helles Bücherregal zog, von 1982, aber wenn es um sprachliche Fragen geht, schadet es meiner Meinung nach nicht, einige Jahre in der Zeit zurückzugehen. Die Rechtschreibung von 1917 hat beispielsweise sympathische Züge, und auch über die von 1907 lässt sich viel Gutes sagen. Noch weiter zurück traue ich mich dann aber doch nicht.
Ich saß lange auf dem Sofa und vertiefte mich in verschiedene Worterklärungen, während Helle duschte und duschte, als ob es kein Morgen gäbe. Ein Typus Wörter, für den ich schon immer etwas übrig hatte, sind solche, die einfallsreich und präzis ein Phänomen beschreiben, ein Lebewesen oder einen Gegenstand, wie zum Beispiel ISEGRIM. Der ISEGRIM ist ein eiskalter Jäger und ein grimmiges Tier, nämlich der Wolf. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er durch die kalten schwedischen Grenzwälder schlich, hungrig und alleine auf der Jagd nach einem Schaf, das er fressen könnte.
Die Dusche wurde abgestellt und es war einen Augenblick lang still. Was passierte nun? Salbte sie sich mit der mystischen Creme, an der ich immer schnupperte, wenn ich in ihrem Bad war? Oder war jetzt Zähneputzen dran? Ich stand auf und ging einige Schritte in Richtung Badezimmer.
Die Tür sprang auf. Helle kam heraus mit einem Handtuch um die Hüften und nassen Haaren. Sie sah unverschämt fraulich und gutgelaunt aus und durchquerte das Wohnzimmer, anscheinend ohne zu bemerken, dass ich da mit dem Riksmål Wörterbuch in der Hand und einem schläfrigen Ausdruck im Gesicht herumstand. Am Abend zuvor waren wir spät ins Bett gegangen nach einer Partie Scrabble, die interessante Diskussionen über das korrekte Buchstabieren von Wörtern wie MENSENDIECKEN, PSORIASIS und ASSESSOR mit sich gebracht hatte. Wenn es um Sprache ging, war Helle einer der wenigen Menschen auf dieser Welt, auf die ich mich verließ und an denen ich mich richtig reiben konnte.
Nachdem ich das Spiel gewonnen hatte, und zwar mit Hilfe des Wortes RAHMENANTENNE, hatten wir, jeder für sich, den Abend mit einem Lumumba beschlossen, waren wie arglose Kinder ins Bett gegangen und hatten uns unseren Träumen überlassen.
»Es gibt TATSÄCHLICH so etwas wie eine RAHMENANTENNE«, sagte ich.
Helle blieb vor der Balkontür stehen und drehte sich um.
»Steht hier drin«, sagte ich.
»Steht wo drin?« fragte Helle.
»Eine RAHMENANTENNE ist eine Radioantenne aus Draht, der um einen Rahmen gespannt wird«, erklärte ich.
»Okay«, sagte Helle.
Sie ließ das Handtuch fallen. Im selben Augenblick ergriff eine schwache Bö die Gardinen, so dass sie wie eine Fahne ins Zimmer wehten. Und mit dem Wind kam ein Wirbel starker Gefühle über mich: Da stand Helle nackt und lachte. Ich starrte auf ihre Brüste. Sie wippten ein bisschen auf und nieder, so als wollten sie unerforschte Weiten entdecken. Ich ging zu ihr hin und umarmte sie, ich scherte mich nicht darum, dass ich mein weißes Hemd nass machte. Das war die Frau, die ich liebte.
Helles Wohnung lag im dritten Stock, und während sie sich anzog, ging ich hinaus auf den Balkon, um die Aussicht zu genießen. Unten auf der Straße stand der Müllwagen, ein orange gekleideter Mann rollte eine Mülltonne heran, hob sie hoch und entleerte sie. An irgendjemanden erinnert der Kerl mich, dachte ich und beugte mich vor, aber jetzt war er schon wieder verschwunden. Müllmann ist ein schlecht angesehener Beruf, aber ein guter Ausgleichssport, und früh fertig ist man auch. Ein hervorragender Job für einen Dichter, fand ich.
Es war der 1. September, und eine Hitzewelle hatte Ostnorwegen überrollt. Das passte mir eigentlich schlecht, denn ich wartete schon eine ganze Weile auf den Herbst. Neulich hatte ich die Arbeit an einem weiteren Manuskript aufgenommen, in das ich große Hoffnungen setzte. Wenn ich das ins Trockene brächte, würde ich vor meinem Durchbruch als Schriftsteller stehen. Nun ging es darum, den Text auf das notwendige Niveau zu heben, um bei der Kritikerzunft der landesweiten Presse mehr als ein mattes Blinzeln zu bewirken. Ich freute mich auf diese Arbeit, die im Laufe des Herbstes erledigt werden sollte, wenn es dunkler und kälter wurde und das Bedürfnis, nach draußen zu gehen, sich auf das absolut Notwendige beschränkte.
Der Herbst war ganz entschieden meine Zeit. Eine Zeit zum Nachdenken. Eine Zeit, um die grundlegenden Weichenstellungen im Dasein zu überdenken. Weiterzubauen, wo ich aufgehört hatte, als der Frühling mit seinem ganzen Vogelgezwitscher und Sonnenschein mich aus der Bahn geworfen hatte. Wann hatte ich denn meine besten Sachen geschrieben, wenn nicht im Herbst? Im sparsamen Schein meiner alten Arbeitslampe, in eine Rauchjacke aus Samt gehüllt, die ich immer zum Schreiben anzog, verlieh ich den Wörtern Flügel, während der Regen draußen in der Stadt auf den dunklen Asphalt fiel.
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