«Wie lange wird es dauern?«Kaum zu hören war die Frage des nun schief aus seiner Sitzgelegenheit ragenden Vaters.
Die Ärztin könne leider auch hier keine genaue Prognose geben. Es könnten einige Tage sein, aber auch eine Woche. Pause. Erneutes Blinzeln. Die Augen der Angehörigen waren Abgründe, in die man sich unter keinen Umständen hineinziehen lassen durfte, weil dies unprofessionell war und niemandem diente. Sie könnten jetzt zu ihr hinein, sagte sie und stand auf, ging ihnen voran, abermals denkend, wie sehr sich die Menschen glichen am Ende und am Anfang: Ein rot geschrienes Neugeborenes ähnelte dem andern, und im Tod schrumpften die über eine Lebensdauer ausgebildeten individuellen Eigenschaften wieder auf das Wesentliche, das Relief des ausgestreckten Körpers unter dem weißen Laken zusammen. Und auch im Schmerz glichen sie sich. Während sie im Vorzimmer gefasst, um Haltung bemüht waren, erfolgte beim Anblick des Sterbenden, da das nicht Vorstellbare sichtbar wurde, regelmäßig der Zusammenbruch. Der Bruder hielt die Schwester. Ihr Oberkörper knickte ein, bebte unter der Wucht der Tränen, die sich nun Bahn brachen. Der Vater senkte den Kopf und presste seine Faust gegen die Augen, als wollte er sie in den Schädel hineindrücken, bevor er die Hand öffnete, um sie in eckigen Bewegungen durch die Luft zu führen, über dem Kopf seiner nichts ahnenden Frau.
Dass er sie ruhig anfassen könne, flüsterte Betty. Aber er schien die Fühllosigkeit dieser Haut zu fürchten. Mit den Blicken suchte er eine geeignete Stelle, berührte dann zuerst die schmale, von der weißen Klinikwäsche bedeckte Schulter, tastete sich dann langsam vor, ließ die kräftigen Finger unbeholfen von ihrem Hals zum Gesicht, zu ihrer Wange gleiten, und Betty überlegte, wann er sie wohl das letzte Mal gestreichelt hatte. Der Kopf vibrierte leise auf dem Kissen, es sah aus, als nicke sie, genieße sie die vielleicht ungewohnte Berührung, aber niemand konnte wissen, was in diesem scheinbar unversehrten Kopf vorging, darin zu Ende ging.
Die Tochter weinte lautlos jetzt und hielt die Hand der Mutter, behutsam, als wolle sie ihr nicht weh tun. Der Bruder hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Oberkörper war noch jungenhaft, aber die Haltung wollte schon männlich sein. Er starrte schräg über das Bett hinweg an die gegenüberliegende Fensterfront, wo eine der Schwestern im Begriff war, den stockenden Lamellenvorhang zu richten, weshalb plötzlich ein Strahl ganz gewöhnlichen Sonnenlichts hereinfiel, der auf den PVC-Fliesen zerging, und der junge Mann, wie geblendet, die Augen abwandte, bis die Krankenschwester auf den Zehenspitzen ruckelnd, den Vorhang wieder geschlossen hatte.
Das Schlimmste aber hätten sie, die Angehörigen zu tragen, sagte nun Betty, wie es ihre Aufgabe war. Die Patientin selbst, sagte sie, spüre ja nichts, habe keinerlei Schmerzen, kein Leiden, bekäme nichts mit. Wie Trockenblumen stellte sie ihre erprobten haltbaren Worte in den Raum. Und wenn sie weitere Fragen hätten, jederzeit, sagte sie, wie sie es immer sagte, Anrufe natürlich auch nachts. Die Tochter schniefte, ein glänzendes Rinnsal Rotz lief ihr am Kinn hinab, daran hatte sich eine Haarsträhne festgeklebt. Wer dachte an Taschentücher an einem Morgen wie diesem? Betty gab eine Packung aus und ließ sie allein.
Auf ihrem Drehstuhl sitzend, beobachtete sie ihr Mobiltelefon. Seit Tagen war es nicht aktiviert worden und redete dennoch ununterbrochen. Sie nahm es in die Hand, ließ es zwischen Daumen und Mittelfinger um die eigene Achse kreisen. Dann gab sie nach, schaltete es ein und wartete mit geschlossenen Augen, bis der Signalton einen weiteren Anruf in Abwesenheit verkündete, Rufnummer unterdrückt, am Vorabend um 21.14 Uhr. Vermutlich war Tom inzwischen in Italien angekommen. Wenige Tage nur noch bis Neapel. Er tastete sich nach Süden hinab am Rande des Meeres. Er konnte sie nicht verfehlen, durfte es nicht. Auch wenn sein Kommen die in der Tiefe ihrer Erinnerung ruhenden Bilder an die Oberfläche wirbelte.
Altdorf in Oberfranken. Der winzige Friedhof, immer wieder, in idyllischer Hanglage, grüne Wiesen, die sich an Bergen bis zum Horizont hinaufstapelten. Davor gelber Raps. Einige wenige Schäfchenwölkchen, die über das tiefe Blau des Himmels zogen. Marcs frisches Grab, ein Blumenhügel in allen Farben, passend zum Mai.
Tom hatte sie zum Zug gefahren, stumm. Das Auto hatte seit Silvaplana dringend in die Werkstatt gemusst, es röhrte und heulte, als wollte es ihr Schweigen übertönen. Vor dem Bahnhof hielt er an. Ob er sie auf den Bahnsteig …? Seine letzten Worte für sie. Sie aber schüttelte den Kopf, indem sie auf die Hand hinab sah, die auf seinem Oberschenkel lag, kräftig und die Finger gespreizt. Innerlich nahm sie sie und legte sie an ihre Wange, neigte den Kopf ihr entgegen. Äußerlich stieg sie aus, lief um den Wagen herum, zog ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ihren alten Urlaubsrucksack, an dem die schmutzigen Turnschuhe zu beiden Seiten baumelten. Dann schloss sie die Beifahrertür und sah durch das Fenster noch einmal hinein, auf Toms Gesicht, auf seinen dunklen großen Blick, der schon Kilometer und Jahre entfernt war und doch mitten in ihrem Kopf. Sie drehte sich um und lief davon.
Ein Hüsteln. Bonardi stand groß und schief im Ärztezimmer. Betty sprang auf, bat, Platz zu nehmen. Das Gesicht der Tochter war aufgeweicht, Feuchtigkeit glänzte auf der großporigen geröteten Haut, schien sie von innen zu durchdringen und aufzulösen. Toms Gesicht verschwand hinter diesem Gesicht. Betty nickte dem Sohn zu, der an ihr vorbeilief, er müsse hinaus, sagte er, ohne jemanden anzusehen. Vater und Tochter sanken in die Angehörigensessel. Betty blinzelte. Sie hatte sich dieses Blinzeln angewöhnt, es schien ihr angemessen, um Mitgefühl auszudrücken, aber noch war sie sich dessen bewusst. Kein Automatismus bis jetzt.
Ob sie denn Fragen hätten im Moment, sagte sie leise und kam sich eigentlich sehr sympathisch vor.
«Sie sagen, sie hat keine Schmerzen. «Bonardis Stimme klang wie ein Befehl.
Betty nickte mehrmals. Sie spüre nichts. Sie könnten in dieser Hinsicht ganz beruhigt sein.
«Spürt sie dann auch nicht, wenn wir bei ihr sind? Merkt sie, dass wir da sind? Kann sie uns hören?«Bonardi richtete sich auf, stützte sich mit den Händen auf der Lehne ab, als wollte er jeden Moment auf sie losspringen.
Betty zögerte, wiewohl sie die Antwort kannte, oft erprobt hatte.»Das wissen wir nicht so genau. «Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen merke sie nichts in diesem Zustand, sagte sie, aber wenn die Angehörigen das Gefühl hätten, mit der Patientin sprechen zu wollen, dann sollten sie das ruhig tun, man könne nie wissen.
Aber dann sei es theoretisch auch möglich, dass sie Schmerzen habe, sagte er. Betty blickte in das aufgeweichte Gesicht der Tochter, hinter dem ihre Erinnerung verschwunden war.
«Oder? Wenn man nicht weiß, ob sie uns hören kann, dann kann sie auch Schmerzen haben, oder nicht?«Bonardis Kopf zitterte, schien von seinem Hals herunterfallen zu wollen.
«Nein«, sagte sie.»Nein. «Das Gehirn sei nicht schmerzempfindlich, es gebe dort keine Nerven. Abgesehen vom Koma würde die Patientin also allein deshalb keine Schmerzen spüren, keine Sorge, sprach sie langsam zu den Angehörigen, die sie in wenigen Minuten entlassen würde in den Tag, wo die liebe Sonne schien, als sei kein Unglück die Nacht geschehen. Wie Silvaplana an jenem Morgen, dachte sie. Betty sah in die Angehörigengesichter, hin und her, fragte, ob sie weitere Fragen hätten, blinzelte und beobachtete, wie Tom wieder hinter dem Tochtergesicht heraufstieg. Sie blinzelte und blätterte flink im Fotoalbum ihres Gedächtnisses. Ihre Fahrt zu dritt vom Comer See in den Winter von Silvaplana hinauf, ihre Fahrt, wieder zu zweit, wenige Tage später zum Krankenhaus nach Samedan, das wie frisch geputzt in der Morgensonne lag. Der Schnee war in wenigen Stunden weggetaut, als sei kein Unglück die Nacht, als sei alles ein Traum gewesen. Das pendelnde Vanilleduftbäumchen im Auto, die feuchtglänzenden bunten Garagentore von Samedan. Das Röhren des alten Autos, gleich neben den Sternbildern, gleich neben Marcs Körper im Keller des städtischen Klinikums, gleich neben Toms Augen, dem Zigarettengeschmack seiner Küsse, dachte sie und wunderte sich über den Gerechtigkeitssinn ihres Gedächtnisses, das alle Bilder in gleicher Wichtigkeit, gleicher Größe nebeneinander hinstellte. Sie blinzelte, blinzelte die Bilder weg. Das Religionsthema war anzusprechen in diesen Fällen. Sie schlug das Fotoalbum zu, ihr Bein über und beugte sich auf dem Drehstuhl nach vorn.
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