Er hustete.»Hm?«
Wegener schaute zur Tischdecke hinab und wölbte den Mund.»Sie sind also Musiker?«, wiederholte er. Er lächelte gespannt.
«Ich? Nein, nein«, sagte Holler, und er schüttelte den Kopf. Hedda lächelte. Ihr Lächeln glitt von Thomas entschuldigend zu Wegener hinüber.»Thomas!«, sagte sie. Das Wort hallte im Raum. Die akustischen Verhältnisse waren so aufgrund der Leere, dass jedes Geräusch ein wenig nachhallte, und auch in seinem Kopf, der ebenfalls leer war, hallte dieser Tonfall, den er gut kannte, ein wenig nach. Er musste etwas sagen, also sagte er:»Ich spiele ein bisschen Klavier. Für Geld.«
«Wenn Sie es so formulieren möchten«, sagte Wegener lachend, und Hedda sagte fast gleichzeitig, Thomas habe im vorigen Jahr zum vierten Mal den German Jazz Award bekommen! Sie sprach von ihm wie von einem Kind, und es fehlte nur, fürchtete er, dass sie eine Platte von ihm auflegte.
«Ach«, sagte Wegener.»Herzlichen Glückwunsch!«Was er denn für eine Musik mache? In einer einzigen Bewegung schlug Wegener ein Bein über und führte gleichzeitig seinen gestreckten Zeigefinger an die Wange, so als könne er in dieser Stellung besser hören.
«Ach, nichts Besonderes«, sagte Holler.»Wir finden heraus, was den Leuten gefällt, und dann spielen wir es. «Er schenkte sich Wein nach, trank ihn in einem Zug aus. Das leere Glas stellte er auf die weiße Tischdecke. Es war eines der sogenannten» Familiengläser«, von denen er leider mehrere zerbrochen hatte. Die drei Familiengläser standen im Halbrund auf der Tischdecke. Zwei funkelten rot und voll, eines war leer. Er wusste, dass er weiterreden musste, um nicht aufzufallen, also redete er. Sie machten Musik im Zwischenbereich von Weltmusik und Jazz, erklärte er, wie er es unzählige Male erklärt hatte, und vielleicht stimmte es sogar. Sie arbeiteten für jedes Album mit Einflüssen verschiedener traditioneller Stile, Tango, italienische Canzone, Balkanmusik, Musette. Verorteten diese in einer neuen musikalischen Sprache, die vom experimentellen Jazz inspiriert sei. Von der improvisierten Musik. Nicht er sprach, sondern es sprach aus ihm. Lutz Wegener fand es aber sehr interessant.
«Ich kann ja mal was auflegen«, schlug Hedda vor.
«Nein!«, sagte Holler zu laut.»Nein«, echote er leiser und zerrte seine Mundwinkel in ein Lächeln, er habe das schon so oft gehört. Er schwitzte. Er fühlte sich wie ein vollgesogener Schwamm, der, sobald er von jemandem angetippt wurde mit einem Wort, einer Frage, überlief. Er hätte gern das Thema gewechselt, aber es fiel ihm nichts ein, denn sein Kopf war ganz weit und leer wie diese Wohnung, nur war keine Kunst darin. Lutz Wegener dachte auch gar nicht daran, das Thema zu wechseln, denn Musik im Allgemeinen war ein dankbares Gesprächsthema. Er redete jetzt viel, Namen und Daten und Epochen, während Hedda sich etwas entspannte. Holler schenkte Wein nach, trank mit großen Schlucken, nickte, ohne zu verstehen, hörte nur den Klang der Wörter, nicht aber deren Inhalt, bis Wegener ohne ersichtlichen Grund verstummte. Eine kurze Pause entstand, in der Holler sich hätte entschuldigen können, er müsse ein weiteres Mal auf die Toilette, um dann endlich den Brief zu nehmen und zu verschwinden, aber er staunte so sehr über die plötzliche Stille, dass er wieder zu langsam war und Hedda ihm zuvorkam. Sie murmelte etwas von Abendessen, sagte dann laut mehrmals das Wort Pasta (Hedda hätte niemals Nudeln oder Spaghetti gesagt, sondern immer» Pasta«,»Pasta con «etc.) und lief hinaus.
Holler saß lächelnd neben seinem Nachfolger. Die Anspannung wie ein Lineal im hochaufrechten Rücken und eingezwängt in die Schraubzwinge dieses Gesprächs, achtete er auf jedes einzelne der Küchengeräusche, denn erst wenn es still wird, dachte er, ist es gefährlich, solange sie kocht, ist sie beschäftigt, sagte er sich immer wieder, während Lutz Wegener an der Zwinge drehte und redete, über die Mehrfachakkorde im Bebop, über die aktuelle Berliner Jazzszene, die aber wirklich zu den besten gehöre, weltweit, könne man fast sagen, oder? Wie er persönlich das sehe, er , der Experte? Aber Holler hatte grundsätzlich dieselbe Meinung wie sein Nachfolger, nickte und sagte, dass er das wirklich genauso sah. Wegener lockerte die Gesprächszange. Schweigen breitete sich ungehindert aus, was Holler ganz gut hätte ertragen können, Lutz Wegener, der kurzzeitig beleidigt wirkte, aber nicht. Stumm nahm er die Brille ab, wodurch er sein leicht fischiges Aussehen verlor, putzte scheinbar gedankenlos die Gläser. Man könne fast meinen, sagte er seufzend, dass der Frühling bald käme, obwohl es wieder so kalt geworden sei. Und doch habe man den Eindruck, dass schon etwas in der Luft liege. Er winkte ein wenig mit der Hand auf der Höhe seines Ohres.
Holler schwieg.
Wegener räusperte sich, indem er eine locker zur Faust geformte Hand vor den Mund hielt. Ob Holler denn bald einmal in Berlin spiele, fragte er blinzelnd.
Er habe heute Nachmittag gespielt, antwortete Holler.
Wegener staunte.
«Schumann.«
«Ich meinte«, sagte Wegener,»ob Sie demnächst ein Konzert geben.«
«Ach so«, sagte Holler,»Italien«, fuhr er fort und drehte sich eine Zigarette und zündete sie an, obwohl er sich denken konnte, dass es Hedda nicht gutheißen würde: ein Nichtraucherhaushalt endlich, und er hatte nichts anderes zu tun, als ihr postwendend die schöne frische Leere vollzuqualmen.
«Italien?«, sagte Wegener. Tom verstand nicht, neigte fragend den Kopf.
«Sie sagten Italien?«
«Wir spielen in Italien, ja«, sagte er und sah sich nach einem Aschenbecher um, entschied sich für die Blumenvase. Lutz Wegener aber konnte es fast nicht glauben: Italien! zufällig hatte er nämlich seine Dissertation in Literaturwissenschaft über einen italienischen Dichter mit einem Raubtiernamen verfasst, den mit Hölderlin zu vergleichen er sich zur Aufgabe gemacht hatte, und war bei dieser Gelegenheit in ganz Italien herumgekommen. Bologna, Rom, sogar Sizilien.
«Sogar Sizilien«, murmelte Holler.
«Ja, Sizilien ist herrlich!«
«Bestimmt«, sagte Holler und beendete somit auch das Italienthema. Er war kein dankbarer Gesprächspartner, zugegeben. Hatte er aber auch nie behauptet.
Er wippte mit den Knien, lauschte auf die Küchengeräusche, hohes Klappern, tiefes Klappern, immerhin schien sie beschäftigt, aber er konnte nicht verstehen, dass es so lange dauerte, ein paar Spaghetti zu machen, aber» Pasta con «dauerte vermutlich einfach länger. Holler rauchte. Wegener sagte:»Die vom Barock geprägte sizilianische Architektur. «Holler trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. Wegener sagte:»Sie müssen unbedingt den Monte Pellegrino besuchen, wenn Sie in Palermo sind. «Er nickte aufmunternd. Holler nickte auch.»Zu Fuß«, sagte Wegener,»eine herrliche Wanderung, etwa drei Stunden, und«, fuhr er fort,»die Grotte der Heiligen Rosalia. «Holler nickte dankbar. Wegener sagte:»Die Grotte der Rosalia hat ja schon Goethe besucht. «Holler trank einen großen Schluck Wein. Er schnippte etwas Asche in die Vase. Er dachte an Goethe, dachte an seine Deutschlehrerin Frau Gabel, und Wegener sagte:»Normannische Zeit. «Holler stellte das Weinglas ab. Die Tischdecke blendete. Er dachte an das blauschwarze Haar der Gabel, dann nur noch an Schwarz, dann an nichts, wenn nichts etwas ist, und Wegener sagte:»Arabische Zeit«, er sagte» griechische Zeit«, er sagte» elymische Zeit«, und Holler nickte. Die gleichförmige Bewegung seines Kopfes und das ununterbrochene Rauschen der Worte riefen ein Gefühl der Ewigkeit hervor in ihm, als hätte er schon immer nickend hier gesessen, während Lutz Wegener schon immer über die elymische Zeit gesprochen hätte.
Als Wegener sagte:»Sizilien ist ja unter kunsthistorischen Aspekten einzigartig«(Holler verstand nicht den Sinn der einzelnen Worte, hörte nur deren Geräusch), trat aber das rhythmische Klappern von Absätzen immer plastischer aus dem Hintergrund hervor, worauf die Gastgeberin gut gelaunt mit einem Topf» Pasta con Pesto«, sagte sie, erschien und sogar den Zigarettenrauch übersah.
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