Holler tauchte aus der Ewigkeit auf wie aus einem Goldfischglas.»Ich muss aufs Klo«, sagte er. Er erschrak über die Lautstärke der eigenen Stimme und über die Stille, die scharf an sie angrenzte. Er lächelte entschuldigend, eilte durch den weiten Raum, indem er die Aufmerksamkeit Heddas und Lutz Wegeners hinter sich herzog, und trat auf den Flur hinaus. Nachdrücklich öffnete er die Badezimmertür und schloss sie von außen, schlich weiter bis zur Telefonkommode, sah erleichtert die noch ungeöffneten Briefe, durchwühlte den Stapel mit flatternden Händen, Telekom, Deutsche Bank, Zeit, lauter Rechnungen und ganz unten endlich, zwischen einem Baumarkt-Prospekt, das giftgrüne Zimmerpflanzen zu einem erstaunlich günstigen Preis anbot, und einem H&M-Leporello mit Kindermode, entdeckte er sein altes Sparkassenkuvert. Es war noch ungeöffnet. Er warf einen kurzen Blick in Richtung Wohnzimmer, nichts, er faltete den Brief und steckte ihn in die Hosentasche, dann lehnte er sich mit dem Hintern an die Kommode, die etwas wackelte, fühlte sich plötzlich ebenso wacklig, als trügen ihn die Beine nicht, andererseits musste er jetzt tatsächlich aufs Klo. Er wartete einen Moment, bis er genügend Kraft gesammelt zu haben meinte, und schlich ins Bad, pinkelte im Stehen (kleine Bösartigkeit Hedda gegenüber), vermied es aber konsequent, als er sich die Hände wusch, in den Spiegel zu sehen, ging ins Wohnzimmer zurück, merkwürdig leicht jetzt wie ein Stofftier, aus dem man die Füllung herausgeschüttelt hat.
Auf einmal hatte er keine Lust mehr, nach Hause zu gehen, hatte eigentlich mehr das Bedürfnis nach Gesellschaft, außerdem unterhielt man sich schließlich ausgezeichnet, wie er sich sagte, also erwog er zu bleiben. Als er im Türrahmen stand, um sich zu verabschieden oder zu bleiben, sah er Folgendes: Es ging ein Blick von Hedda zu Lutz Wegener, es knüpfte dieser Blick ein rosafarbenes Band von ihr zu ihm und wieder zurück.
Sie hatten ihn nicht kommen hören und erschraken, als er den Stuhl rückte, um sich zu ihnen zu setzen. Der Blick zerriss. Schnell wünschten sie einander einen guten Appetit und begannen zu essen. Hedda und Wegener entfalteten in einer synchronen Bewegung ihre Servietten und legten sie auf die Knie. Ein Kerzenleuchter streute unruhiges Licht über den Raum. Holler stellte sich vor, das Kind von Hedda und Lutz Wegener zu sein. Ein etwas ungeliebtes, weil zu dickes oder unbegabtes Kind schöner und perfekter Eltern.
Die» Pasta «schmeckte, wie er fand, nicht gut. Aber Wegener lobte alles sehr. Holler, das Kind, schwieg, aß und spürte plötzlich den Hunger, meinte tagelang nicht gegessen zu haben, jedenfalls konnte er sich an kaum eine Mahlzeit erinnern, einen Döner und eine Falafel irgendwann, vor Tagen. Er nahm sich eine zweite Portion, dann eine dritte, sicher aß er unschön, wie er oft unschön aß (laut Hedda), zumal wenn er großen Hunger hatte, weil er (laut Hedda) dann seinen Kopf fast bis auf den Teller hinabsenkte. Jetzt aber genoss er es geradezu, den Kopf bis auf den Teller hinabzusenken, genau wie Hedda es vermutlich genießen würde, hochhackige Schuhe zu tragen.
Als er fertig war, breitete sich angenehme Müdigkeit in ihm aus. Er lehnte sich zurück, betrachtete lange seine Eltern. Dabei hörte er einen gewissen Rhythmus im Kopf, einen geraden 5/4-Takt, wie ein Zug, der über alte Gleise rumpelt.
«Thomas, bitte«, Heddas Stimme schien aus ihren Augen zu kommen. Erst jetzt merkte er, dass er den Takt mit seiner Gabel auf dem Teller schlug.»So, so«, sagte er, als er die Gabel parallel zum Löffel auf den Teller gelegt hatte, wie es sich gehörte,»da haben Sie also studiert und sogar promoviert, das wird Hedda beeindrucken!«Heddas Blick verfestigte sich.»Auch wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollte«, fuhr er fort,»und auch nicht Ihren italienischen Raubtierdichter mit Hölderlin, finde ich.«
«Wie meinen Sie das?«, fragte Lutz Wegener interessiert.
«Gibt es eigentlich noch Nachspeise?«, Holler blinzelte in Heddas Gesicht.»War ein Witz«, sagte er.
Hedda knetete ihre Serviette in der Hand. Holler schenkte allen nach, etwas Wein schwappte auf das weiße Tischtuch.
«Man soll nicht immerzu Birnen mit Äpfeln vergleichen«, fuhr er fort,»weil es keinen Sinn hat. Weil man das eine nicht mit dem andern vergleichen kann, weil die Welt aus beliebigen Einzelteilen besteht und kein riesiges Puzzle ist aus Stücken, die man nur finden und zusammensetzen muss«, sagte er, war sich aber nicht sicher.
Dann könne man aber überhaupt keine Wissenschaft betreiben, entgegnete Lutz Wegener, indem er sich zurück, dann wieder nach vorn lehnte, seinen Ellbogen auf dem Knie abstützte und mit der Handfläche Kreise beschrieb. Es sei doch so, dass die ganze Wissenschaft auf Vergleichen beruhe, ein Netz von Beziehungen herstelle. Und er redete noch weiter über Wissenschaft und wissenschaftliche Verfahren, aber Holler hatte schon wieder einen Rhythmus im Kopf, benutzte nun Löffel und Gabel, indem er mit dem Löffel einen 5/4- und mit der Gabel einen 4/4-Takt schlug.
«Sehen Sie, so ist es in der Welt«, sagte Holler und schnitt Wegener wohl den letzten Satz ab.»Es passt nichts zusammen. Nur dass wir das nicht einsehen können, weil wir immer alles aufgeräumt und ordentlich haben müssen, und dann muss Ihr Leopard eben in die Hölderlin-Schublade rein, und in die Bebop-Schublade gehört aber auch noch der und der, und wenn wir nicht jede Minute sagen können, jaaaa, das kenne ich, das hat doch der und der auch schon gemacht, das ist doch wie beim Dings, und der Dingsbums hat das doch damals in der Dings-Epoche auch schon darauf und darauf bezogen, als Querverweis auf den Soundso und unter Berücksichtigung der Dings-Tradition und mit Hinweis auf das na, das, oder? …«Er hatte vergessen, was er eigentlich hatte sagen wollen. Er nahm einen Schluck Wein und begann wieder zu trommeln.
Wegener beobachtete Holler.
«Auch die Musik ist doch eine Abfolge von Beziehungen und von analogen Strukturen«, sagte er.
Holler hörte auf zu trommeln.
«Selbst wenn sie Freejazz machen, achten doch die Musiker aufeinander.«
«Das behaupten sie nur«, sagte Holler und sank etwas ein. Der Weinfleck auf dem Tischtuch hatte die Form einer Stadt angenommen.»Fulda«, sagte er plötzlich,»da ist ja Fulda!«, und überlegte, was er eigentlich hier machte. Wieder betrachtete er Lutz Wegener, dann Hedda, dann wieder Wegener und so weiter, stellte erstaunt fest, dass sie aber auch wirklich zusammenpassten wie zwei Daimler-Benz-Montage-Teile. Er dachte, dass es die Höflichkeit gebot, ihnen noch ein wenig Gesellschaft zu leisten.
Wegener sprach jetzt über den Mond als uraltes poetisches Symbol, beispielsweise bei Hölderlin, aber auch bei Leopardi, und vieles könne man alleine aus diesem Mond herauslesen und eben doch miteinander vergleichen, berichtete Wegener, dessen hellbeige Erscheinung in Hollers Vorstellung aber immer heller wurde, nach und nach verblasste und verschwand, so dass nur die Stimme im Raum stehen blieb und Hedda und Holler so gut wie allein waren. Also legte er unter dem Tisch seine Hand auf ihr Knie.»Der Mond-Topos«, sagte die Stimme. Holler fühlte Heddas Nylon-Strumpfhose. Die Stimme sagte:»Weltalleinsamkeit. «Hedda sprang auf, ging hinter dem Tisch hin und her. Dann setzte sie sich wieder, schlug ihr Bein über, trommelte mit den Fingern darauf, genau am Rand ihres Rockes, auf ihrem langen Bein, das in einem braunen Halbstiefel endete.
«Da haben Sie also über den Mond promoviert, wie schön«, sagte Holler.»Und jetzt machen Sie Werbung, oder?«
«Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, um genau zu sein.«
«Ist das nicht dasselbe wie Werbung?«, fragte Holler.
«Es ist Kommunikation im weitesten Sinn. Es kommt ja doch schließlich auf den Inhalt an. Wenn Sie also so wollen, bewerben wir Kunst. «Wegener entfernte mit der Handkante ein Stäubchen vom Tischtuch.
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