Ein junger Mann und eine junge Frau stehen in einem weiß gekachelten Kellerraum. Sie stehen nebeneinander, aber ihre Schultern berühren sich nicht. Sie gehören zusammen, und doch trennt sie eine Entfernung, eine Luftmenge zwischen ihren Umrissen, die eine Spur zu groß ausfällt. Sie scheinen miteinander zu stehen, aber jeder ist für sich allein. Allein mit dem Toten, der auf der Bahre liegt und auf den ihre Blicke hinabfallen wie ein unwiederbringlich zu Bruch gehender Gegenstand.
Es ist ein Körper, der da liegt. Es ist der Körper ihres Freundes. Er ist bedeckt bis zur Brust von einem grünen Tuch. Die Schultern ragen hervor, rührend spitz, daneben die Arme, Arme eines Jungen. Die Brust ist flach, und sie hebt sich nicht. Darüber der Kopf und der Hals, der in einem merkwürdigen Doppelkinn beginnt. Es ist ein Kinn, wie es der Lebende niemals hatte. Es muss an der Stellung liegen. Die Toten legen sich nicht, sie werden gebettet, ohne Rücksicht auf ein Doppelkinn, das sie zu anderen Menschen formt. Und das Gesicht? Geschlossen die Augen, gewölbt unter den großen Lidern, zugedrückt vermutlich von einem Mitarbeiter des örtlichen Klinikums. Ebenfalls annähernd geschlossen der Mund. Doch nicht ganz, denn die blasse Linie der Lippen ist an mehreren Stellen leicht unterschimmert von der Reihe der Zähne, kaum wahrnehmbar. Die Haut über Wangen und Nase ist stumpf, tatsächlich wächsern. Gelbliches Weiß, unterspannt von den Knochen, die sich in die kühle Kellerluft wölben. Viel zu hoch ragen die Nase, die Bögen des Stirnknochens unter den Brauen. Er sieht nicht aus, als schliefe er, dieser Körper. Der Tod ist mit nichts zu vergleichen.
Der junge Mann, der steht und schaut, sieht vor sich ein Wunder, ein geheimes Mysterium. Und er vergisst zu atmen. Er streckt die Hand aus, berührt den Toten, die Finger legen sich mit der Rückseite auf dessen Wange. Sie ist kalt, kälter als erwartet, so als hätte in diesem Körper niemals Wärme zirkuliert, niemals eine mittlere Körpertemperatur von 36,8 Grad Celsius. Die Wange ist kalt, und der junge Mann weiß nicht, wo der Ursprung dieser Kälte liegt, ob sie daher rührt, dass der Leichnam aus dem Eis kommt, ob sie aus der Kühlanlage des örtlichen Klinikums stammt, oder ob es schlicht der Tod ist, der allgemeine, ganz einfache Tod, der sie mitbringt. Der Eiswürfel streut, die Luft einfriert um die Gestorbenen und damit sein Reich absteckt, glasklar für alle Lebenden.
«Nein«, sagt der junge Mann und schüttelt den Kopf.»Nein, das ist er nicht.«
«Bitte?«, fragt ein etwas abseits stehender Polizeibeamter. Die junge Frau hebt ihren Kopf, sieht ihn an wie einen Fremden, der einem bekannt vorkommt.
«Das ist er nicht«, wiederholt der junge Mann. Und es stimmt, er ist es nicht. Weiß der Himmel, was das ist auf der Bahre im unterkühlten Keller des örtlichen Klinikums Samedan. Es ist definitiv nicht Marc.
Der Tod hat mit dem Leben nichts zu tun, dachte Holler. Wir dürfen uns nicht um den Tod kümmern, solange wir leben, denn solange wir leben, sind wir nicht tot, und umgekehrt. Das Leben und der Tod existieren niemals gleichzeitig und sind daher zwei völlig verschiedene Paar Stiefel, dachte Holler im Flugzeug nach Genua, während sein Blick durch die Scheibe zusammen mit dem Schatten des Fliegers über die weiße Wolkendecke zog. Der Flügel schwankte. Sonnenlicht lagerte in der Rundung der Scheibe. Eine schlecht geschlossene Gepäcktür vibrierte klackend.
«Geht’s dir nicht gut?«, fragte Didi.
«Mir ging’s nie besser«, antwortete Holler, aber es stimmte nicht ganz.
«Du siehst zum Kotzen aus.«
«Das hast du vorhin schon erwähnt.«
«Du siehst jetzt aber noch schlimmer aus, ist dir schlecht?«
«Ich hab wenig geschlafen, das ist alles. «Holler senkte die Tonlage, um das Thema abzuschließen.
«Immer noch Hedda?«, fragte aber Diedrich investigativ.
Da es das Einfachste war, zu nicken, nickte Holler und sah aus dem Fenster. Diedrich, der erst am Vortag aus den USA, den Staaten , wie er es nannte, zurückgekehrt war, wo er, wie er sagte, den Beruf mit dem Vergnügen verbunden und bei Sessions in den angesagtesten Jazzclubs teilgenommen hatte, sprach jetzt über die Frauen im Allgemeinen. Mit Vorliebe sprach er über die Frauen im Allgemeinen und auch im Besonderen, über die physischen Vor- und Nachteile dieser oder jener Studentin (er versah einen Lehrauftrag an der Hochschule, aus deren Umkreis er bevorzugt seine meist jungen Freundinnen rekrutierte), über das eine oder andere Trennungsproblem, mit dem er sich immer dann herumschlug, wenn eine der Damen nicht einsehen wollte, dass der Zahn der Zeit an der Liebe mit besonderem Eifer zu nagen pflegte, was aber nicht Diedrichs Schuld war, denn dieser hatte die Zeit nicht gemacht. Die Liebe — wie auch übrigens die Musik —, sagte er jetzt, vergehe halt in der Zeit, verbrauche sich in der Zeit, das habe er, Tom, selber einmal gesagt. Oder?
Eine blonde Stewardess zog mit ihrem leisen Wagen an ihnen vorüber und den Blick Diedrichs hinter sich her.
«Und«, sagte er, als die Stewardess hinter ihrem Vorhang verschwunden war,»die Ehe ist überhaupt eine Dummheit, weil die Liebe immer ein Verfallsdatum hat, das nur leider bei manchen Beziehungen sehr klein gedruckt ist, aber es ist immer da«, sagte er. Außerdem gebe es wirklich noch mehr Frauen, you know , das könne er ihm glauben. Italienerinnen zum Beispiel.
Diedrich, seit Hedda Groning-Holler und Tom Holler getrennte Wege gingen, wie es hieß, schien sich für das Sexleben seines Kollegen verantwortlich zu fühlen und versuchte, wann immer er mit einer Frau nach einem Auftritt in ein Gespräch kam, ihn einzubeziehen, woraufhin vor einigen Monaten eine Studentin der Bassklarinette, in deren nach Patschuli riechender Wohngemeinschaft sich allerdings außer Schlafen und einem peinlichen Kaffeetrinken mit einem gewissen Mitbewohner Bernd am Morgen nichts ereignet hatte, der vorläufige und von Diedrich in Unkenntnis der Details als Erfolg verbuchte Höhepunkt geblieben war.
«Oder?«, sagte Diedrich.
Tom nickte. Er hatte nicht zugehört, nur das Wort Italienerinnen hatte er undeutlich verstanden. Er öffnete zwei Knöpfe seines Hemdes und legte seinen Sitz nach hinten. An Schlaf aber war nicht zu denken, da Didi sein Frauenreferat noch nicht beendet hatte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass die Wolkendecke sich verloren hatte, nur noch Fetzen trieben in der Luft. Darunter lag schmutzigbraunes Land, eingeteilt in viereckige Flächen von Feldern, Wäldern, Industrieparks, Einkaufszentren, Dörfern, Parkplätzen. Dazwischen die Straßen, die die Parzellen durchschnitten wie Linien auf Zeichenpapier. Alles wird von den Straßen beherrscht, dachte Holler. Die Landschaft wird von den Straßen erst hergestellt, wird von den Straßen gezeichnet. Die Straßen sind der Zeichenstift in der Hand der Menschen.
«Oder auch die eine oder andere Touristin«, sagte Diedrich.
«Ja«, sagte Holler.
«Eben«, sagte Diedrich.
Tom blickte jetzt auf Diedrichs Knie, wo dessen speckige runde Kinderhand lag, mit einem Grübchen über jedem Fingergelenk, vollkommen unbehaart. Diedrich seufzte.»Das wird schon«, sagte er und ließ, Tom hatte es vorausgeahnt, die Gelenke seiner Finger knacken, indem er diese ineinander verschränkte und dann die Handflächen nach außen stülpte. Die Chicks, sagte Diedrich, und meinte die Frauen, stünden ja insgeheim am meisten auf die Typen am Piano. Holler lächelte schwach. Diedrich hatte immer schon» Chicks «gesagt und damit die Frauen gemeint, aber es kam ihm so vor, als dehne er neuerdings den Vokal noch amerikanischer in die Länge. Fast alle Jazzmusiker, dachte Holler, haben ein Faible für alles Amerikanische, unter anderem deswegen hatte er die Jazzmusiker nie gemocht, einschließlich sich selbst. Didi berichtete jetzt von Clubs, in denen er gespielt habe, mit welchen Größen, mit welchen Namen er Gigs gespielt habe. Er müsse das nächste Mal unbedingt mitkommen, sagte er, in die Staaten. Er hatte zwei Gläser Sekt bestellt, die von einer Stewardess mit rechteckigen weißen Fingernägeln gebracht wurden.
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