Holler nickte tief.»Kommunikation«, wiederholte er gedehnt. Er lehnte sich zurück.»Es macht ja nichts«, sagte er. Er lachte plötzlich.
«Sie machen doch sicherlich auch Werbung für Ihr Quartett, oder?«, fragte Wegener in einem Lächeln, das sich etwas versteift hatte.
«Klar«, sagte Holler.»Wir machen ja auch Kaufhausmusik!«Er schnippte einen Parmesankrümel mit dem Zeigefinger über den Tisch.
Wegener zuckte mit dem Kopf, als hätte er nicht richtig verstanden.
«Vergessen Sie’s«, rief Holler.»Ich bin bloß richtig froh, dass ihr euch gefunden habt! Auf das Mysterium der Liebe, prost«, aber sein Glas war leer, alle anderen Gläser auch, und niemand schenkte nach. Sie saßen um diesen runden Tisch wie die Abdrücke dreier Amphibien in einem Stein. Und Holler fühlte sich eigentlich wohl darin. Er hatte den Verdacht, dem Beginn von etwas beizuwohnen, und das ist immer ein schönes Gefühl.
Er überlegte: Ewige Liebe, sagte er sich, verspricht man einander, aber gibt es den Beginn der Ewigkeit? Denn, was beginnt, dachte er andererseits, hört auch wieder auf. Demnach musste sie immer schon da gewesen sein, diese Liebe, die gerade zwischen Lutz Wegener und Hedda Groning zu beginnen schien. Folglich hatte Hedda niemals ihn, Tom Holler, sondern immer schon Lutz Wegener, ihr hübsches Pendant, geliebt, ohne es zu wissen, hatte Lutz Wegener durch seine, Hollers, Person hindurch geliebt sozusagen, wie man durch eine verschmutzte Milchglasscheibe hindurch den Sonnenaufgang bewundert. Und wer konnte es ihr verdenken? Nicht einmal sein Blick ist so besonders fischäugig, wie Holler jetzt feststellte, als Wegener erneut die Brille abnahm, um die Gläser zu putzen, die Augen sind eigentlich groß und schön und blau, erkannte er, mit langen Wimpern, die Hedda sicherlich ganz besonders mochte, wie sie auch seine langen Wimpern zu mögen sich immerhin eingebildet hatte.
«Meinen Sie, es gibt die ewige Liebe?«, rief Holler.»Das frage ich Sie als meinen Nachfolger.«
«Thomas!«, rief Hedda.
Wegener hatte die Brille inzwischen wieder auf der Nase und blickte fischäugig. Hedda war aufgestanden und klimperte mit den Fingernägeln auf dem Tischtuch.
«Setz dich doch, Hedda«, sagte Holler.»Du musst ja nicht stehen!«
Sie setzte sich. Plötzlich schien sie auf ihn zu hören, obgleich sie in den letzten Jahren grundsätzlich das Gegenteil von dem getan hatte, was er vorschlug. Hatte er ans Meer fahren wollen, waren sie in die Berge gefahren. Hatte er das weiße Sofa unters Fenster stellen wollen, hatte sie es aber neben das Bücherregal geschoben. Hatte er Hunde geliebt, so hatte sie eine Perserkatze angeschleppt.
Holler fuhr fort:»Was aber beginnt, muss doch auch ein Ende haben, nicht? Oder hat die Ewigkeit einen Anfang?«Lutz Wegener blickte ihn interessiert an, wie man in ein Terrarium im zoologischen Garten hineinschaut, wo sich bei den Spinnen, Fröschen und Salamandern eigenartige Dinge ereignen.»Tja«, sagte Wegener.»Leopardi würde sagen, die Liebe ist unendlich, nicht aber der Mensch.«
«Das kommt mir unlogisch vor«, sagte Holler, dachte aber sofort, dass Wegener sicher recht hatte. Ein Mensch wie Wegener irrte sich nicht. Ein Mensch, der so einen Anzug anhatte, kein Fältchen, dachte er bewundernd, obgleich er sicher schon den ganzen Tag in ihm unterwegs war. Wenn er selber einen Anzug trug, so zerknitterte er, sobald er ihn anzog. Vermutlich, dachte Holler, hat er nicht einmal Zahnfüllungen.
«Haben Sie Zahnfüllungen?«, fragte er.
Wegener lachte plötzlich, indem seine Schultern sogar mitwackelten.»Wieso interessiert Sie das?«, fragte er.
Aber Holler winkte ab. Auf einmal war er sehr müde. Er erwog, sich auf eines der Sofas zu legen und ein wenig zu schlafen. Er sah Fulda auf dem weißen Tischtuch und daneben Wegeners saubere Hand, aber alles, auch das Sofa, schien sehr weit entfernt. Und in seinen Gedanken tauchte sehr langsam der Italienstiefel aus dem meerblauen Hintergrund der Zukunft auf. Er musste nach Hause, er musste die Flugtickets suchen.
«Thomas!«
Er konnte sich nicht bewegen. Nur sein Blick schleppte sich über den Tisch hinweg bis zur Tür. Also werde ich bleiben, dachte er und lächelte. Noch in Jahrzehnten werde ich also hier herumsitzen, wie man auf einer Party herumsitzt, auf dieser sogenannten Lebensparty, in die, weil von irgendjemandem eingeladen oder mitgenommen, man zufällig und ohne eigenes Verschulden hineingeraten ist, so dass man jetzt schon seit bald vierzig Jahren dasitzt, auf irgendeinem Sofa, in irgendeiner Ecke, und langweilige Gespräche führt und sich zusäuft, ohne sich zum Gehen entschließen zu können, vielleicht in der Hoffnung, es könnte noch besser werden, vielleicht aus Bequemlichkeit, weil es irgendwann sowieso vorbei sein wird und das Licht ausgehen und der große Gastgeber bei Sonnenaufgang die Reste beseitigen wird, vor sich hin summend, vielleicht sogar Schumann. Er lächelte.
«Thomas!«
Irgendwie gelang es ihm, den Blick zu heben, die ganze Bleikugel seines Kopfes.»Ja, Liebling?«
«Thomas, du solltest nach Hause gehen!«
«Ja!«, rief er. Und er schnellte vom Stuhl, tippte sich kurz mit zwei Fingern an die Stirn, nickte Lutz Wegener zu:»Machen Sie weiter so«, sagte er.»Immer schön Zähne putzen!«Er drehte sich um, etwas zu schwungvoll, so dass er Probleme hatte, das Gleichgewicht zu halten.
Mitten auf dem Flur saß Callas. Ihre grünen Augen wühlten sich in seine Seele. Er wusste, die Katze konnte Gedanken lesen. Sie fixierte ihn ungefähr eine halbe Minute, bevor sie mit einem entsetzten Schrei in eines der Zimmer zurückhuschte.
«Deine Jacke!«, rief Hedda, die ihm bis zur Tür gefolgt war.
«Ach so«, sagte Holler.»Es ist Frühling.«
«Du übertreibst mal wieder.«
«Er ist nett«, sagte er.
Röte huschte über ihr Gesicht.»Er ist ein Kollege.«
Holler nickte.
«Danke für das Ei«, sagte sie.
«Wirf es weg, gelber Sack, denke ich. «Holler zog die Jacke an und ging hinaus.
«Thomas?«
Er blieb in ihrem Schatten stehen, der auf den Flur in die Februarkälte hinausfiel.
«Callas hat Krebs, deshalb ist sie so komisch.«
«Das tut mir leid«, sagte Holler, der sich aber eigentlich nicht erinnern konnte, dass sie jemals anders gewesen war, und es tat ihm auch nicht leid, weswegen er sich schämte. Er sah, dass Heddas Augen glitzerten, das Zwielicht des Treppenhauses schwamm darin, Flüssigkeit, die stieg und stieg, bis das Wasser auf den Lidrändern balancierte. Er hätte wegsehen müssen, dachte er, diskret, der Moment, in dem die Feuchtigkeit aus dem Auge fällt, zur Träne wird, ist ein äußerst privater, der privateste vielleicht. Stattdessen sah er hin, genoss die Überlegenheit. Plötzlich, die Tränen liefen inzwischen hinab, hinterließen zwei Spuren auf ihren Wangen, streckte Hedda die Hand aus, berührte ihn an der Brust, ungefähr dort, wo das Herz saß, als wollte sie einen Fussel wegzupfen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, mit einem Ruck, wie um sich fortzureißen von irgendwo, legte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm sie zögernd in den Arm und strich ihr kurz übers Haar, was schwierig war, wegen des Pferdeschwanzes. Er roch ihr neues Parfum. Sie machte sich los, sah ihn noch einmal lange an und glitt mit ihrem Schatten in die Helligkeit der Wohnung zurück. Der Lutz-Wegener-Abend konnte beginnen.
Der Tod ist das letzte Blatt im Bilderbuch eines uralten Kindes. Ein dünner Pfad, der durch gemaltes Märchengelände führt. Er geht an Berge geschmiegt, halb verborgen von hängenden Pflanzen, für jedes Jahr der Menschheitsgeschichte eine: Waldefeu, Lianen, unendliche Dornbüsche. Er geht inmitten einer schweigenden Vegetation, wandert durch dunkle Täler, über ernst blickende Felskämme, zielt in weiten Bögen auf die andere Seite der Gipfel, verliert sich in blauer Ebene, von keinem Horizont je begrenzt. Und menschenleer ist sein Weg, denn er öffnet sich nur absoluter Stille. Die Lebenden finden ihn nicht. Zu laut sind die Schritte, zu fordernd ist ihr Suchen. Er durchwandert ein Gebiet, von dem niemand ahnt, wo es liegt, von dem niemand ahnt, was darin geschieht. Wie das verlorene Atlantis existiert es neben den Landkarten. Niemand weiß, ob es da ist, und doch muss es da sein. Ganz nah. Aber es gibt keinen Übergang, es gibt kein Zwischen. Hier das Leben, dort der Tod, beides getrennt durch eine Leere, weiter als die Distanz des Erdmittelpunktes bis zum äußersten Planeten des Universums. Es hängt keine Brücke. Der Pfad beginnt im Nichts.
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