Jetzt tönte ein metallisches Quietschen, ein gespenstisches Geräusch zwischen Schreien und dem Lärm eines bremsenden Zuges. Ein heller Strich zischte aus einem der geöffneten Zimmer in den Flur: Es war Callas, die Katze, die er vollkommen vergessen hatte. Mit aufgestelltem, gesträubtem Schwanz blieb sie sitzen, fixierte aber nicht Wegener, der im Begriff war, die Flügeltür zum Wohnzimmer zu öffnen, sondern ihn. Sie hatte ihn nie leiden können, und obwohl er immerhin fast zwei Jahre mit ihr zusammengelebt hatte, war sie stets Heddas Katze, mein Kätzlein , geblieben (außer bei so unerfreulichen Angelegenheiten wie Tierarztbesuchen, Urlaubsplanung etc., wo es regelmäßig geheißen hatte unsere Katze, die sie einst angeschleppt hatte, ohne ihn zu fragen, an einem Punkt ihrer Beziehungsgeschichte, da er ohnehin wegen nichts mehr gefragt wurde). Nun saß sie in diesem weitläufigen Flur, weiß und bauschig, und starrte ihn mit tränenden Augen an wie ein großes Unglück.
Wie recht sie hat, dachte er.»Na du?«, sagte er, und um die Tierinhaberin nicht noch mehr zu verärgern, beugte er sich zur Katze hinab, wofür er, etwas wacklig, sogar in die Hocke ging, lockte mit den Fingern und spitzte die Lippen, um einige Geräusche zu machen, die die Katze dazu veranlassten, ihren Kopf eine Sekunde lang schief zu halten, bevor sie schreiend in die Richtung davonsprang, aus der sie gekommen war.
Hedda aber lehnte schmallippig im Türrahmen und winkte ihn mit einer knappen Kopfbewegung in die Küche. Es war dies eine Wohnküche, mit Sofa, was Holler freute, denn Hedda war immer eine große Freundin der Wohnküche gewesen. Und nun hatte sie also endlich eine, und zu Recht, wie er sich sagte, denn es gibt einfach Menschen, die Wohnküchen verdient haben! Vor dem Fenster allerdings klebte eine Bauplane, innen daneben das Monticchio-Foto.
«Es ist mir übrigens wieder eingefallen, wie es hieß«, sagte er, indem er mit dem Kinn auf das Foto deutete.
«Was?«, sagte Hedda. Sie lehnte an einer rückenergonomischen Arbeitsplatte, die nach frischem Holz roch.
«Monticchio«, sagte er.
«Ich weiß«, sagte sie, wollte aber nicht weiter darüber reden, denn es war ihr offenbar unangenehm, etwas mit ihm zu teilen, und wenn es auch nur ein paar verstaubte gelbstichige Erinnerungen waren.
Natürlich, dachte er. Und: Warum sie es überhaupt aufhängt?
«Kannst du mir jetzt bitte verraten, weshalb du hier bist?«, sagte sie, und ihre Stimme klang, als risse sie eine Seite aus einem Buch heraus.
«Das habe ich doch schon gesagt«, sagte Holler.»Ich wollte dir mitteilen, dass ich umziehe, dass du noch ein paar Sachen …«
«Thomas«, unterbrach sie ihn.»Das weiß ich. «Eine weitere Seite wurde zerrissen.
«Ich verreise«, fiel ihm ein.
Sie nickte.
«Italien«, sagte er.»Wir gehen auf Tour, ich wollte mich verabschieden. «Es hätte sich jetzt angeboten, ein unverfängliches Gespräch über Italien zu beginnen, aber er sah, wie Hedda ihren Kopf in einer empfindlichen Schräge hielt, und er zog es vor, zu schweigen. Warum geht sie nicht auf einen einzigen Moment ins Wohnzimmer, dachte er, oder ins Bad? Dann nämlich will ich sie erlösen, ich will den Brief nehmen, mich unverzüglich und in aller Diskretion entfernen. Es wird so sein, als hätte ich nie existiert. Nichts dergleichen aber geschah. Ein Wassertropfen fiel in die Spüle, zerbrach darin. Noch einer. Verzweifelt wandte er den Blick zum dunklen Fenster, worin sich die Wohnküche und er selbst und die sorgenvolle Hedda in die Tiefe des schwarzen Raums hinein verdoppelten. Da sah er das Wohnaccessoire, das neben seinem Oberschenkel hing und tickte. Er hielt die Tüte in die Höhe:»Ich habe dir auch eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte er fröhlich.»Zum Einzug!«
«Danke«, sagte sie und nahm die Papptüte an sich, während ein schwaches Lächeln auf ihrem Mund gleich wieder verlosch. Ohne rechte Neugier grub sie den Gegenstand hervor, wickelte ihn aus, betrachtete lange das Ei, betrachtete dann lange ihren Ehemann, wie man einen Hund betrachtet, der einem eine tote Maus geschenkt hat. Sie aber hatte Hunde nie besonders gemocht.
«Danke«, wiederholte sie.»Das ist offenbar eine Eieruhr, nicht?«
«Ja«, log Tom.»Ich dachte, für die neue Wohnung, du kannst sie vielleicht brauchen.«
Sie schwieg.
«Ich dachte, wo wir ja immer Schwierigkeiten hatten, den richtigen Moment zu erwischen, nicht?«
«Ja, die hatten wir«, sagte sie.
«Kann ich mal deine Toilette benutzen?«, fragte er, um das Gespräch fortzuführen.
«Zweite Tür links.«
Er dachte: Idiot. Aber die Situation ist auch wirklich schwierig. Alles ist wirklich schwierig, sagte er sich, auch im allgemeineren Sinn. Als er die Kommode mit den Briefen passierte, zögerte er, bog seinen Kopf über die Schulter zurück, um festzustellen, dass Heddas nachdenkliches Gesicht in den Flur ragte. Also betrat er das Badezimmer, schloss die Tür, stützte sich am Waschbecken auf und sah in den Spiegel. Wie erwartet erschienen darin dieselben klagenden Augen wie immer, etwas humorlos, obwohl er sich eigentlich gar nicht humorlos vorkam, gleich darüber das dunkle Haar, das (seit ihn niemand mehr freundlich, aber bestimmt darauf hinwies, dass er schon mindestens ein halbes Jahr nicht beim Friseur gewesen sei) unkämmbar tief in die Stirn hinabhing, und darunter links und rechts die beiden senkrechten Linien, die die Wangen zerfurchten wie zwei Felsspalten im Gebirge, und er verstand sowohl Callas’ als auch Heddas Entsetzen.
Idiot, sagte er sich. Du bist, ich bin ein Idiot.
Als er von draußen ein Klappern hörte, fiel ihm ein, dass es gefährlich war, Hedda mit den Briefen allein zu lassen. Hastig drückte er die Spülung, lief auf den Flur zurück, sah den Poststapel aber von weitem unverändert auf der Kommode liegen und spazierte daher, äußerlich ruhig und nahezu lautlos pfeifend, die Hände in den Taschen, wieder in Richtung Wohnküche. Hier aber stand Wegener und fragte, eine der Weinflaschen in die Höhe haltend, nach einem Korkenzieher. Holler zeichnete mit der Spitze seines Schuhs eine liegende Acht, bis Wegener, der im Begriff war, in einer geschmeidigen Bewegung den Korken aus der Flasche zu ziehen, auf ihn aufmerksam wurde. Höflich wandte er sich an ihn. Die Höflichkeit schien sich von Wegener abzuspalten und ein Eigenleben zu beginnen. Ob er denn ein Glas mittrinke, wurde von ihm höflich gefragt. Und Holler sah, wie die im Türrahmen stehende Hedda den Mund öffnete, ihn dann zu schließen vergaß, wodurch sie fast etwas dumm aussah, fischartig, so dass sie noch besser zu Wegener passte, dachte Holler. Es vergingen einige Sekunden, aber sie gingen auf der Stelle, sammelten sich auf einem Punkt, und er dachte, dass er etwas sagen müsse, schnell, bevor Hedda es tun konnte, und er sagte:»Ja, gern!«, und vermied den tief in seine Wange stechenden Blick der Gastgeberin. Er entfernte ein Haar von seinem Hemdsärmel.
Im Wohnzimmer, in das sie schweigend hinübergetrottet waren — es war ein weißer, fast quadratischer Raum mit Kappendecke und drei Pfeilern in der Mitte, Bauplane vor der langen Fensterfront —, kam man sich merkwürdig eingepackt vor.
«Gemütlich«, sagte Holler.»So ganz ohne Außenwelt!«Lutz Wegener lachte höflich, weil er dies für einen Witz hielt. Hedda sagte pragmatisch, nachdem sie sich geräuspert hatte:»Setzt euch. «Sie setzten sich. Es war ein runder Esstisch, den Holler noch nicht kannte, mit weiß leuchtender Tischdecke, einem Strauß roter Tulpen, und schräg gegenüber lag in einer Ecke eine Sofasitzgruppe mit kleinem Würfel davor, natürlich war Kunst an den Wänden, sonst Leere. Dort hinein machte Wegener Konversation, worin er geübt war.
Er sei ja Musiker, sagte er und lächelte. Wie er darauf komme, fragte Holler.»Hedda«, sagte Wegener mit einem Hüsteln. Holler überlegte. Die Situation kam ihm eigenartig vor. Er meinte, sie schon vorher irgendwo erlebt zu haben, in einem früheren Leben, mit einer früheren Ehefrau und deren neuem Liebhaber, und trotzdem fühlte er sich nicht heimisch darin. Er war in dieser Situation wie in einem Zimmer, in das man sich auf der Suche nach einem ganz anderen Zimmer verlaufen hatte und das einem gleichwohl bekannt vorkam. Er kämpfte gegen einen Lachanfall, trank schnell das Glas aus, um den Lachreiz hinunterzuspülen. Er hörte, wie Lutz Wegener sich räusperte. Er spürte die Blicke, vier Augenblicke, die sich von zwei Seiten auf seine Wangen legten. Man hatte ihn etwas gefragt.
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