Eine Dreiviertelstunde war nichts für Tom Holler, war absolut lächerlich nach den letzten Wochen, obwohl er andererseits gar kein Gefühl mehr dafür hatte, was das war , eine Dreiviertelstunde, wie lang oder wie kurz er sie sich vorstellen müsse. Er dachte sie in der Farbe Gelb. Ein gelbes, relativ kleines Kästchen auf der großen Zeitfläche. Anstatt ein gelbes Kästchen lang auf der Kastanienallee zu warten, hätte er Dinge erledigen können, alltägliche Notwendigkeiten, schließlich würde er in den nächsten Tagen verreisen, und wenn man verreist, erinnerte er sich, hat man immer viel zu tun. Aber was? Was war alltäglich, was notwendig? Es fiel ihm nicht ein. Er fühlte sich komplett neu in dieser Stadt, als wäre er hier zufällig von einem Reisebus vergessen worden, zurückgelassen ohne Gepäck in einem interessanten Abenteuer, und als er die lange Flucht der Cafétischchen gegen Süden hin überblickte, meinte er plötzlich, erste Frühlingsluft zu ahnen. Er stand in einem fremden Land unter fremdem Himmel und roch den heimatlichen Duft des Frühlings. Er dachte: Das nächste Mal bringst du dich im November um. Und: Der Himmel ist schon weicher, man spürt zartfingriges Streicheln von fern oder Ähnliches. Ein Blechblasorchester auf einer Wiese. Ein Schalmeienchor. Erdgeruch mitten in der Stadt. Und und und.
Aber vielleicht waren dies die üblichen Illusionen, die der Februar gern verbreitet. Noch war Winter, und ein langer verregneter März und vielleicht ein ebenso verregneter April und ein vielleicht verregneter Sommer und ein ebensolcher Herbst würden folgen und dann wieder Winter, dachte er mehr oder weniger gleichzeitig, aber in schwächerer Intensität, gewissermaßen dachte er es in Bleistift.
Als er zur anderen Straßenseite hinübersah, erkannte er dort den kleinen Backshop, in dem er manchmal frühmorgens mit Marc, wenn sie mit Zigarettenrauch und Nacht in den Haaren nach Hause gegangen waren, Brötchen gekauft und schlechten Kaffee getrunken hatte. Es kam ihm ungeheuerlich vor, dass er noch immer existierte, dass er dem Wandel der Zeit standgehalten hatte wie mittelalterliche Kathedralen. Der Geschmack des Kaffees im Plastikbecher, erinnerte er sich. Die aus letzten trockenen Krümeln gedrehten Kippen. Marcs Lächeln hinter Zigarettenrauchschleiern. Er sah es vor sich ebenso deutlich wie die Leuchtreklame des Backshops. Und Betty Morgenthals Silhouette, von Wasser durchströmt, hinter der durchscheinenden Wand einer Duschkabine. Marc im Feinrippunterhemd am Klavier sitzend, Zigarette im Mundwinkel. Und plötzlich seine eigene persönliche Mutter, während sie auf Knien den Backofen säubert, leise seufzend, weil das Säubern eines Backofens ein nahezu unmögliches Unterfangen ist. Hedda Groning in einem wie ein Schatten sie bedeckenden Kleid im Dämmer eines Parks, ihre schimmernden Zähne als einzige Lichtquelle. Die schwarzen Tannen im Garten der Frau Hermanns. Ihre Glasmurmelaugen. Bettys dunkler Umriss im Gegenlicht, wie aus dem Himmel geschnitten.
Und gleich daneben die Zukunft: Italien. Er lächelte, während das Land in seiner Vorstellung auftauchte, merkwürdigerweise nicht mit seinen Stränden, Städten, Bergen und Meeren, sondern als rotweißgrün gestreifter Stiefel, aus dem kleine gelbe Fähnchen ragten, wie sie Jens-Christian Hepp, der Agent, zur Illustrierung ihrer Tournee auf der Höhe der einzelnen Stationen hineingesteckt haben könnte. Und als der Italienstiefel im Meerblau seines Hintergrundes verschwand, erinnerte er sich plötzlich, dass er sich als Kind sein Leben als ein täglich länger werdendes, hinter ihm liegendes Band vorgestellt hatte, in der Art der Bonzettel jener Rechenmaschinen, die sein Vater Gerhard Holler in seinem Souterrain-Büro auch dann noch zu verkaufen versucht hatte, als es längst Computer gab. Aber da war nichts Zusammenhängendes, nur ein Durcheinander vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Momente. Und weil er selbst ein Mensch war, der nicht einmal seine Fotografien in eine Reihenfolge zu bringen und in ein Album zu kleben vermochte, sondern sie zum Leidwesen Heddas stets in ungeordneten Haufen in Schachteln aufbewahrt hatte, schien auch sein Leben in besonders unordentliche Fragmente zu zerfallen, bunte, glitzernde Splitter im Kaleidoskop seines Gedächtnisses, die interessante, aber sinnlose Formen ergaben, die sofort verschwanden und wieder neu entstanden und letztlich nichts anderes waren als die unzähligen Spiegelungen einiger weniger immergleicher Teilchen.
Vielleicht, dachte er, hatte Hedda deshalb alles umso ordentlicher, auch ihre Ehe, der Reihenfolge nach beschriftet und zwischen die Pappdeckel eines Fotoalbums gepresst, als konserviere sie die Gegenwart noch in deren Anwesenheit und ermorde sie damit, wie ein Insektensammler seine Schmetterlingsexemplare leider ermorden, präparieren und aufspießen muss, um sie in den Glaskästen der Ewigkeit konservieren zu können. Zwei wunderschöne, buntgeflügelte und tote Falter waren sie im Glaskasten der Erinnerung.
Holler überlegte, zum Backshop hinüberzugehen und einen Kaffee zu trinken, aber er konnte sich nicht entscheiden, die Straße zu überqueren. Viele der vorübergehenden Menschen wirkten tief unglücklich, unglücklicher, als er selbst jemals hätte wirken können. Gelangweilte, aber sehr gut angezogene Mütter schoben ihre Kinderwagen dicht an ihm vorbei. Das flammende Rot der Kinderwagen. Zwei Hunde, die gleichzeitig an einen Baum pinkelten. Ein Kind, das mit Hilfe eines Stöckchens ein schmutziges Taschentuch wendete, zu weinen begann, als seine Mutter es weiterzog. Ein hinkender Mann redete mit sich selbst. Ein anderer redete wie mit sich selbst in die Freisprechanlage seines Handys. Zwei Frauen redeten miteinander. Sie sagten:»Präsentation. Kriegt keinen Urlaub. Am Sonntag bis um elf gearbeitet. «Jemand sagte:»3000 €. «Und alle befanden sich in einer großen Bewegung, die sie zu verbinden schien.
Weil er fror, stellt er seinen Kragen auf und begann, auf und ab zu gehen. Kurz überlegte er, jemandem zu folgen, um in einem dieser ihm ameisenhaft erscheinenden Wege ein Ziel zu finden, verwarf aber seinen Gedanken und blieb vor einem Schaufenster stehen. Seine Frühlingsahnung war verschwunden. Jetzt fühlte er sich kalt und fremd und verlassen, so als wäre er von einem Reisebus in einer fremden Stadt vergessen worden, aber es war kein angenehmes Gefühl mehr. Er sah in das Schaufenster, aus dem ihm sein eigenes Gesicht entgegensah und — ebenso klar umrissen und deutlich — das von Betty Morgenthal. Auch Marcs Gesicht neben einem grasgrünen Wecker.
Darüber stand» Accessoires«.
Obwohl er sich nicht besonders für Accessoires interessierte, ging er, nachdem die innenstehende Verkäuferin auf ihn aufmerksam geworden war, hinein, strebte mit der größten Entschlossenheit auf die Ladentheke zu und deutete auf eine Uhr in der Form eines Eis, die allerdings, wie man ihm entgegen seiner Annahme erklärte, keine Eieruhr, sondern eine ganz normale Uhr, ein sogenanntes Wohnaccessoire, sei.»Egal«, sagte er. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal etwas gekauft hatte, schon gar nicht ein Wohnaccessoire. Er wusste auch nicht, ob das Wohnaccessoire ein sinnvoller Kauf war oder nicht, aber nachdem er gezahlt hatte und die immer lächelnde Verkäuferin mit schnellen Fingern die Wohnuhr in eine nach DDR aussehende geblümte Papiertüte gesteckt und über die Ladentheke zu ihm herübergereicht hatte, fühlte er sich für einen Augenblick fast glücklich, denn er hatte wieder eine Funktion in der Welt. Er war ein Kunde.
Die Tüte mit dem Wohnei baumelte tickend neben seinem Bein, als er in den Hinterhof zurücklief, wo die Arbeiter noch immer arbeiteten. Ein Vogel hämmerte sein metallisches Pfeifen, aber er konnte ihn nicht sehen, nur die schwarzen, reglosen Zweige des Baums vor der weißen Glätte des Himmels. Er rauchte, warf den Stummel auf die Erde. Mit der Spitze des Schuhs schabte er darauf herum, es gab ein sandiges Geräusch. Sofort zündete er sich wieder eine Zigarette an und wandte sich erneut an den Arbeiter mit der blauen Mütze. Ob er eine Zigarette wolle. Er arbeite, sagte der Arbeiter. Wie lange er denn noch müsse. Bis es dunkel sei, man müsse fertig werden, sagte der Arbeiter unwillig.
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