In Blumenberg bildete sich ein als . Hier wurde langsamer gedacht als vormals üblich. Es sei ihm nicht schwergefallen, als — aber wann? aber was? wohin führte dieses als? Die verflossene Zeit konnte er nicht mehr taxieren, die darin geborgenen Handlungen nicht mehr in einen logischen Ablauf bringen. Es war, als hätten sich im logischen Raum seines Denkens Kavernen aufgetan, die nach unbekannten Prinzipien funktionierten. Sein Unvermögen beunruhigte ihn nicht, darum verflüchtigte sich das als .
Er schlug die Augen auf, als täte er es zum ersten Mal, erblickte fünf Personen um sich geschart und erkannte sie. Zwei der Namen fielen ihm gleich bei. Käthe Mehliss und Gerhard Baur. Baur, an den er sich aus der Sprechstunde noch erinnern konnte, auch wenn diese Sprechstunde jetzt ferngerückt war, als hätte ein anderer sie abgehalten, fern, als hätte er sich selbst nur für einen vorbeiwischenden Moment im Kopf dieses anderen aufgehalten, der einmal Professor gewesen war.
So kurz ihre Begegnung gewesen sein mochte, Käthe Mehliss hatte sich ihm eingeprägt. Sie trug auch hier ihre weiße Haube, die den Kopf betonte, allerdings erschien sie ihm jünger, als er sie in Erinnerung hatte, während ihm die anderen vier Personen, auch Gerhard Baur, älter vorkamen. Das Mädchen, das immer in der ersten Reihe gesessen hatte, wirkte nicht mehr ganz so jung; die beiden Männer, die wohl auch seine Studenten gewesen waren und an die er sich eher verschwommen erinnerte, waren ebenfalls mittleren Alters.
Blumenberg schloß die Augen und gab sich der Löwenbehaglichkeit hin. Wenn er den rechten Arm ausstreckte und anhob, konnte er ihn auf die linke Schulter des Löwen legen. Alles war gestattet. Der Löwe war allein für ihn da. Blumenberg fühlte Gewißheit, daß er dem Löwen auf den Rücken hätte klettern dürfen, um wie ein Kind auf ihm zu reiten. Der Löwe würde dulden, daß er sein Gesicht in der Mähne vergrub, wahrscheinlich war es sogar erlaubt, ihm ins Maul zu langen und nach den Zähnen zu fassen, geradeso wie er einst seinem Axel mit dem Zeigefinger hinter die vorderen Eckzähne gefahren war, um ein bißchen mit ihm zu rangeln.
Seine Lider senkten sich herab. Unstoffliche Lider behüteten unstoffliche Augen, mit denen aber, war der Wille dazu vorhanden, intensiver gesehen werden konnte als mit herkömmlichen. Kein Grund, zu sprechen oder irgend etwas bewerkstelligen zu wollen. Da spürte er eine kleine Bewegung nahe der linken Hand, oder war es ein Scharren? Er öffnete die Augen — das Rebhuhn war zurückgekehrt, um sich — ja was? — mit ihm zu unterhalten? Blumenberg nahm es behutsam auf seinen Schoß und strich ihm mit dem Zeigefinger vorsichtig über den Kopf. Obwohl sich die Berührung in narrender Scheinhaftigkeit vollzog, war ein Vergnügen dabei, über den federglatten Kopf zu streichen, wobei das Rebhuhn den Kopf zu ihm herwendete und ihn aus einem vollkommen runden, schwarzglänzenden Auge ansah.
Bei dem Gehäusbild von Antonello da Messina habe ich mich falsch besonnen, sagte Blumenberg, da steht natürlich keine Wachtel auf der Brüstung, sondern du stehst da.
Das Rebhuhn nickte.
Die Erinnerung an sein Arbeitszimmer kehrte plötzlich mit überraschender Deutlichkeit wieder: Verzeih, ich hatte keine Abbildung auf dem Schreibtisch liegen, und es war lange her, daß ich sie mir zuletzt angeschaut hatte. Du bist in dem Bild, und du bist es gewesen, du allein, zu dem sich Johannes niedergebeugt hat. Mit dir hat er gespielt, glücklich wie ein Kind.
Das Rebhuhn nickte.
Selbstvergessen, befreit vom Geschäft, in der Anschauung Gottes zu verharren, kitzelte der Gottesmann dich unter dem Schnabel. Du willst mir nicht verraten, was ihr damals beredet habt?
In einem Erschauern lüftete das Rebhuhn sein Gefieder und ließ ein leises Flügelburren hören.
Wie ein einfältiges Kind wird er gesprochen haben, di-di, du-du, da-da, sagte die Mehliss. Von ihrer aufrechten, scharfen Art hatte sie kaum etwas verloren. Sehr gerade saß sie auf einem Stapel Decken, die blickdicht bestrumpften Fesseln mit den schwarzen Lackschuhen überkreuz: Und das Huhn wird halt getan haben, was Rebhühner eben so tun — schnarren!
Das Rebhuhn duckte sich in Blumenbergs Schoß nieder.
Richard hatte eine Hand weit über den Kopf erhoben. In Zeitlupe häkelten seine gekrümmten Finger etwas an der Luft: Ich habe meinem Kater komplette Gute-Nacht-Geschichten erzählt und ihn ins Bett genommen, sobald die Mutter aus dem Zimmer war. Ein fetter, fauler, schwarzer Kerl. Vielleicht war es auch nicht die Mutter. Vielleicht die Großmutter.
Halb liegend, halb sitzend, war er neben Isa tief eingesunken auf dem Chesterfield-Sofa, und nur die am langen Arm erhobene Hand zeigte an, daß er größer war als Isa.
Früher habe ich gern Rebhuhn gegessen, sagte Blumenberg, jetzt, wo ich dich so nah bei mir habe, ist das eine unmögliche Vorstellung, so unmöglich, als hätte das Verzehren von Rebhühnern niemals stattgefunden.
Das Rebhuhn erschauerte in seinem Schoß.
Es sei der scheußliche Lauf der Welt, daß man sie abschieße — verehre, male, abschieße, sich herablasse, mit ihnen zu sprechen, abschieße, undsoweiter, fort und fort, ließ sich etwas vernehmen, das vielleicht das Rebhuhn war. Die Stimme klang erstaunlich tief für einen so kleinen Vogel; jedes Wort wurde allerdings mit einem anfänglichen Glucksen hervorgestoßen, als hätten die Lautwerkzeuge des Tieres, besonders sein Zünglein, Mühe, die menschliche Sprache nachzubilden.
Niemals, überhaupt nie habe ich Hühner gegessen, sagte Isa. Vielleicht als Kind. Aber das änderte sich mit siebzehn, als ich in der Bretagne einen Geflügelmastbetrieb von innen sah. Sie wunderte sich, daß dieser Geflügelmastbetrieb, die Dumpfigkeit der Halle, ihr wieder so deutlich ins Gemüt stieg. Für einen Moment hielt sie inne, um zu überprüfen, ob auch wahr sei, was sie gerade gesagt hatte.
Dem Futter war irgend so ein Gift beigemischt, damit den Hühnern die Federn ausfielen. Alle waren nackt. Alle verletzt. In einer Lagerhalle Tausende von Hühnern, die Luft trüb vom hochgewirbelten Dreck. Unerträglich heiß war’s darin. Und überall das Gegacker, aber nicht einzeln, sondern in Wellen. Danach war es mir unmöglich, je wieder ein Huhn zu essen.
Immerhin, sagte Blumenberg, junge Menschen lassen sich von seltsamen Anblicken überwältigen und werden offenbar befähigt, eine Entscheidung zu treffen.
Stimmt aber nicht, sagte Gerhard, ich habe bei euch in der Wohnung mal ein Suppenhuhn gekocht, und du hast die Suppe regelrecht in dich hineingeschlungen, so gut schmeckte sie dir.
Isa wandte sich von Gerhard ab, der linkerhand von ihr, sehr für sich, mit langen Beinen inmitten eines Kissengebirges saß.
Hansi riß ein Streichholz an, ein Vorgang, der sich überlaut, mit einer winzigen Explosion, in Gezisch und Geknister übergehend, bemerkbar machte. Seine Zigarette hatte die Form einer wirklichen Zigarette, und sie glühte auch auf, als er an ihr sog, aber sie war eine gekonnte Lufttäuschung, und die um sie gekniffenen Lippen waren dies nicht weniger. Der Rauch, der beim Ausblasen aufstieg, wurde von keinem Windhauch entführt, nur von der Leere; er war kunstvoll, ein schnörkeliges, verschlungenes Gebilde, das sich langsam entschlang, als würde mit jedem Rauchstoß ein Knoten in Hansis Innerem in die Freiheit entlassen und entwirrt.
In ungewohnt salopper Nähe zu menschlichen Wesen, zwischen den Beinen Richards und Isas, hatte sich Hansi gegen das Sofa gelehnt, beim Rauchen legte er den Kopf weit zurück. Isa rührte mit dem Handrücken an seine Haare, die auf dem Sitzpolster auflagen, falls man diese Haare, gemacht aus hauchdünnen grauen Schattenfäden, noch Haare nennen wollte. Hansi schwieg, und er schien sein Schweigen zu genießen.
Was wir gegessen haben oder nicht gegessen haben, zählt hier nicht, sagte die Mehliss, hier wird jedenfalls nicht gegessen.
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