María versprach, am nächsten Nachmittag vorbeizukommen und ihm die Stadt zu zeigen. Im Moment war für ihn alles zu neu, als daß er sich Sorgen hätte machen können, ob sie wiederkäme oder nicht. Mit seinem Hotelzimmer war er sehr zufrieden; es hatte einen Balkon auf eisernen Gerüsten, von dem man auf einen viereckigen Platz mit zwei mächtigen Palmen blickte. Trotzdem fühlte er sich in dem Zimmer wie eingesperrt, stickig war’s darin, nach wenigen Minuten ging er nach draußen, um sich vor ein Café zu setzen und an der freien Luft in Manaus heimisch zu werden.
Obwohl er kein Opernfreund war, hätte er liebend gern eine Darbietung im Teatro Amazonas besucht — allein die Vorstellung, sich in einer kleinen Stadt mitten im Urwald eine Oper anzuhören, war aufregend —, aber das berühmte, 1896 erbaute Theater war geschlossen, sein Inneres mitsamt dem opulenten Ballsaal wohl ziemlich baufällig, termitenzernagt; schon seit Jahrzehnten fanden hier keine glanzvollen Aufführungen mehr statt.
Am Abend aß er in einem kleinen Lokal eine Feijoada aus schwarzen Bohnen mit pfefferscharfen Wurststücken und einer geballten Ladung Knoblauch. Danach trank er zu viele Caipirinhas, die ihm nicht bekamen. Er streunte noch ein bißchen durch die Straßen, kam sich mehr und mehr verlassen vor und lag dann ziemlich früh, mit schwerem Magen, im Bett und konnte nicht einschlafen. Aus Verzweiflung eher denn aus Neigung kramte er Sein und Zeit aus seiner Tasche, schlug darin, weil er sich schon in etlichen Anläufen mit dem Anfang abgequält und kaum etwas verstanden hatte, ein späteres Kapitel auf, dessen Überschrift ihm erlaubte, sie auf seine Situation zu münzen: Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins , und blieb an einer Stelle hängen, die auf ihn zuzutreffen schien, Stelle, an der es hieß, daß die Flucht des Daseins Flucht vor ihm selbst sei , aber im Wovor der Flucht komme das Dasein gerade hinter ihm her . Richard ließ das Buch auf seinen Bauch sinken — unzweifelhaft, etwas kam hinter ihm her, etwas zutiefst Angsterregendes kam hinter ihm her. Aber die Angst war diffus. Wie Heidegger sich ausdrückte, fungierte nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden war, als das, wovor die Angst sich ängstete; die innerweltliche Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen war für die Angst ohne Belang. Sie sank in sich zusammen .
Er war tief in sein durchhängendes Bett eingesunken. Sein und Zeit hatte er mitgeschleppt in der Hoffnung, in anders farbigen Ländern, unter einer anders glühenden Sonne, würde sich ihm der Sinn des rätselvollen Buches wie von selbst erschließen. Bisher war ihm das nicht gelungen, und so hatte er das schwerste Stück seines Gepäcks eher wie einen nutzlosen Stein herumgetragen. Jetzt, zum ersten Mal, hatte ihn eine Stelle in diesem Buch gepackt, ihn angesprochen, als wäre sie eigens für ihn verfaßt worden. Aus dem Buch entstieg etwas ins nicht mehr Geheure. Böse Gedankenfinger umtasteten sein Herz.
Nach einer schweren Nacht, in der die dunkle Bohnenmahlzeit eine düstere Verbindung mit seinen Ängsten einging, erwachte er am nächsten Morgen zerschlagen. Zehn Uhr fünf. Das Wetter war wie immer. Feucht. Warm. Freundlich.
Er bekam Lust, mit María die berühmten Seerosen auf der anderen Seite des schwärzlichen Flußes anzusteuern. In einem Reiseführer hatte er tablettrunde Riesenblätter gesehen, von einer Größe und Stärke, daß ein mageres Knäblein wohlbehalten darin schlummern konnte, ohne unterzugehen. Lufterfüllte Zellen erlaubten der Vitória Regia, sich schwimmend zu erhalten. Einkerbungen am hochgewölbten Rand ließen das Regenwasser ablaufen. Vielleicht würden María und ihm von den Seerosen Winke zugetragen, welches gemeinsame Schicksal ihnen bestimmt war. Die an Wundern reiche Natur konnte ihnen das Wahrscheinliche im Unwahrscheinlichen offenbaren, wer weiß, vielleicht bekämen sie Lust, auf einem Seerosenblatt zu wohnen.
Den Vormittag über streunte er herum. Allmählich gefiel ihm die Stadt. Die portugiesischen Kolonialbauten waren außergewöhnlich, filigran und üppig zugleich. Was für eine Verschwendungssucht mitten im Dschungel! Es mußte unglaublich anstrengend gewesen sein, all die Bauteile hierher zu verfrachten. Zu der Zeit gab es in Manaus keine Industrie, die das Material für solche Prachtbauten hätte liefern können.
Auf der Veranda des Hotels wartete er auf María, gehüllt in tiefe Besorgnisse, was nun zu sagen und zu tun sei, entwarf Pläne, die er sofort wieder verwarf. Für seine Pläne hätte er sich selbst überwachsen müssen. Sie hätten die Tatkraft eines Riesen von ihm verlangt.
María kam pünktlich, was für eine Südamerikanerin außerordentlich war. Die Leute kamen meistens mindestens dreißig Minuten nach der vereinbarten Zeit.
Sie schien gehemmt. Begrüßte ihn nicht mit der Anmut, mit der sie ihm sonst die Hand auf die Stirn gelegt oder seine Hand ergriffen hatte. Wahrscheinlich ist sie befangen wie ich selbst, dachte Richard. Eine Weile gingen sie etwas verkrampft nebeneinander her; Richard überwand sich zu seinem Seerosenvorschlag, der mit einem kurzen Nicken als Bestätigung aufgenommen wurde.
Richard wunderte sich. Normalerweise hätte María einen solchen Vorschlag mit entzückendem Geplapper quittiert und ihm gleich rund um die Seerose neue Wörter beigebracht. Heute blieb sie erstaunlich wortkarg.
Sie war ihm einen halben Schritt voraus und ging Richtung Hafen, aber einen anderen Weg als den, den sie gekommen waren. Richard hatte seine Straßenkarte gar nicht mitgenommen, da ihn María führte. Die Gegend wurde ärmlicher, überall niedere Häuser mit halb verfallenen Anbauten, von denen die papageienbunten Anstriche abblätterten.
Verwundert blieb Richard stehen. In einem Hof hingen Fleischstücke an der Wäscheleine. In Salz eingelegtes Fleisch, das an der Sonne trocknete, wie María ihm versicherte, offenbar eine Spezialität der Region, von der er noch nie gehört hatte. Das hängende Salzfleisch wirkte auf ihn makaber, es verlangte ihn nicht unbedingt danach, die Speise, die man daraus bereitete, demnächst zu probieren. Bei den Regengüssen, die regelmäßig drohten, mußte das Fleisch unter Beobachtung stehen, immer wieder abgenommen und neu aufgehängt werden.
Ihre Tante wohne nicht weit von hier, erklärte María, sie kenne bestimmt einen guten Bootsmann, mit dem sie die Fahrt unternehmen könnten. Sie bogen um eine Ecke, hier herrschte nicht der übliche Betrieb von Leuten, die etwas zu besorgen hatten, die Straße wirkte ärmlich. Zwei junge Männer lehnten an einer Holzwand, die Hände unter die Achseln gesteckt, zwischen ihnen der offene Eingang zu einem Schuppen. Richard wurde mulmig zumute, er hätte gern die Straßenseite gewechselt, aber er vertraute auf María, die sich hier ja auskennen mußte. Sie blieb einen Schritt zurück, warum bleibt sie zurück, dachte er, sie hätte doch eher vorausgehen müssen, da lösten die Männer ihre Rücken von der Wand und traten ihm entgegen. Ein kompakter Kerl, kleiner als Richard, in dunkler Hose, dunklem Hemd, Sonnenbrille auf der breiten Nase, sprach ihn an. Richard verstand nicht, es klang nach einer groben Beschimpfung, die Wörter wurden bellend hervorgestoßen, er drehte sich nach María um, damit sie ihm helfe, aber sie war weiter zurückgewichen und wirkte wie nicht recht anwesend. Jetzt mischte sich auch der andere ein und tippte ihm aggressiv vor die Brust, ein größerer Bursche im Hawaiihemd, ein goldenes Kreuz an der Kette baumelte von seinem Hals — María, der Name fiel immer wieder, offenbar kannten die Burschen das Mädchen und wollten eine Bezahlung. Aber wofür?
Um sie zu besänftigen, probierte Richard einige spanische Sätze an ihnen aus, aber das hatte den falschen Effekt. Sie wurden noch wütender, aber gerade so, als hätten sie ihre Wut auf dem Theater einstudiert. Ihre erregten Stimmen wirkten auf Richard fast komisch; er faßte den Mann im Hawaiihemd am Arm, um ihn zu beruhigen, da wurde er in den Schuppen hineingestoßen, lag, eh er sich’s versah, auf dem dreckigen Boden zwischen allerlei Gerümpel.
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